"Man muss schauen können, wenn man etwas sehen will"

Über Barbara Frischmuths Reiseroman "Vergiss Ägypten"

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich möchte dieses Land begreifen, das funktioniert nur über Menschen", meint Valerie Kutzer, und kehrt seit ihrem ersten Besuch in den 1970er-Jahren regelmäßig zu Vortragsreisen und Erkundungsfahrten nach Ägypten zurück. Sie weiß Wort und Detail zu schätzen, und so entfaltet sich aus den auf ihren Reisen aufgelesenen Geschichten "mit losen Anfängen und losen Enden, die sich irgendwo in der Tiefe der Jahre verlieren", und aus Beobachtungen und Gelesenem nach und nach das vielschichtige Bild einer altehrwürdigen Kultur. Aber kann sie außer den Massen von Touristen mit ihrem Besichtigungszwang auch andere zufrieden stellen, gar eine zukunftstaugliche Lebensweise bieten? Je mehr Valerie sieht und hört, desto verwirrender kommen ihr Menschen, Mentalitäten und Traditionen vor.

Nach jahrelanger intensiver Beschäftigung mit den unterschiedlichsten zeitlichen und räumlichen Ausprägungen der türkischen Kultur - etwa mit der Geschichte des Bektaschi-Ordens und anderen häretischen Strömungen in ihrem ersten Roman "Das Verschwinden des Schattens in der Sonne" (1973), dem Leben der türkisch-alevitischen Einwanderer in Österreich in "Die Schrift des Freundes" (1998) oder zuletzt in "Der Sommer, in dem Anna verschwunden war" (2004) - begibt sich Barbara Frischmuth in ihrem aktuellen Roman auf neue Pfade. Die Frage nach Identität und Fremdheit, zwei Hauptthemen ihres Schaffens in den letzten Jahren, lässt sie diesmal orientalischen Lebensentwürfen in Ägypten nachspüren, die nicht nur das herkömmliche Islambild um neue Dimensionen ergänzen. Es gibt so viel mehr, was unseres Blickes würdig wäre, als die Bestätigung der eigenen Vorstellungen und Vorurteile.

Dementsprechend sucht die Protagonistin des Romans die Antworten auf ihre Fragen zunehmend hinter den Fassaden der historischen Bauten, die ihre Glanzzeit längst hinter sich haben, und jenseits der sich - auch in Österreich - hartnäckig haltenden Klischees. Auf ihren Streifzügen, die sie zusammen mit ihrer ägyptischen Freundin Lamis durch Kairo und in die nahe Umgebung unternimmt, begegnet sie nicht nur penetranten Straßenverkäufern und mürrischen Kellnern, denen es peinlich erscheint, Frauen ohne Männerbegleitung zu bedienen, sondern lernt etwa, dass hier früher ein Brunnenhaus mit Bibliothek zu spenden, das heißt "Wasser samt Gelehrsamkeit", als große Wohltat galt und dass einige Mulids, die karnevalähnlichen Feste, bei denen die Liebe der alten Ägypter zum Leben heute wohl am stärksten zum Vorschein kommt, von Muslimen und Kopten in Eintracht begangen werden. Das Gros der Mythen, mit denen sie konfrontiert wird, zeugt ebenfalls von der "Freude am In-der-Welt-Sein". Doch der ägyptische Alltag ist, stärker als woanders, vom Verkehrschaos, in dem man nur auf den Überlebenswillen der Menschen vertrauen kann, von Luftverschmutzung und vergifteten Böden, von Arbeitslosigkeit und Überlebenskampf geprägt. Und auch der Leser lernt, dass keinesfalls nur Westeuropa von Terrorangst heimgesucht wird.

"Ich habe hier in Ägypten so viel Schönes, aber auch so viel Hässliches erlebt, und das Schöne war unvorstellbar schön und das Hässliche abgrundtief hässlich", bilanziert auch Marie Nur, eine jener Handvoll Österreicherinnen, die im Gegensatz zu Valerie, die vor dem entscheidenden Schritt zurückschreckte, vor Jahren aus persönlichen Gründen ins Land gekommen sind. Die immer stärker werdende Sehnsucht nach ihrer Jugendliebe Abbas, der damals wie viele andere arabische Studenten zum Studium nach Wien kam, macht Valerie für ihre Lebensgeschichten empfänglich, durch die sie auch mit dem eigenen nicht gelebten Leben konfrontiert wird.

Und so lauscht der Leser den in - für Frischmuth so typischen - leisen Tönen vorgetragenen Lebensgeschichten von mehr oder weniger privilegierten Frauen der älteren Generation, die angesichts der gesellschaftlichen Zwänge erhebliche Schwierigkeiten hatten, sich als Frau zu behaupten. Sie klagten kaum und auch dann vor allem den Schicksalsgenossinnen, denn alles andere wäre Verrat an der Entscheidung, die man einmal getroffen hat. Zu Frauen, die arm oder weniger glücklich geheiratet haben oder zu einer streng gläubigen Muslimin geworden sind, pflegt man keine Kontakte. Doch auch bei ihren Schicksalen handelt es sich, daran lässt Frischmuth keinen Zweifel, um "Tragödien, wie sie überall auf der Welt vorkommen, nichts Spezifisches". Auch wenn in der patriarchalischen Gesellschaft Ägyptens längst eine Revolution im Gange ist, wie es die Freundin Lamis behauptet - und sie muss es wissen, hat sie sich doch ein Leben lang die Freiheit erfolgreich erkämpft, als Frau allein zu wohnen -, hat die jüngere Generation weiterhin Angst, sich auf ein Leben festzulegen, "in dem nicht mehr alles von mir abhängt". Was, wenn sich ihre Entscheidung, den bekannten Lebenskontext zu verlassen, im Nachhinein als Fehler erweist?

So betrachtet Barbara Frischmuth Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer in Europa vermeintlich bekannten Kultur aus mehreren möglichen, miteinander auf vielfältige Weise verschränkten persönlichen Perspektiven und rückt damit nicht nur Unwissenheit und Missverständnissen literarisch zu Leibe, sondern präsentiert in einer schlichten Sprache jene von ihrer eigenen Protagonistin gesuchte "Vorstellung von Ägypten, die es wert wäre, aufgeschrieben zu werden". Sie stellt darüber hinaus, auch als Ergebnis der Suche nach der anderen Sicht, mit einer wohl den Ägyptern abgeschauten Gelassenheit gegenüber den Dingen des Lebens und frei von moralisierendem Kommentar, Wege dar, die letztendlich anderen das Zusammenleben mit uns ermöglichen.


Titelbild

Barbara Frischmuth: Vergiss Ägypten. Reiseroman.
Aufbau Verlag, Berlin 2008.
220 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783351032272

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