Mythologische Aneignung

Barbara Beßlich über deutsche Napoleon-Literatur

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wofür gilt Napoleon? Für einen "verabscheuungswürdigen Menschen; für den Anfang alles Bösen und das Ende alles Guten; für einen Sünder, den anzuklagen, die Sprache der Menschen nicht hinreicht", für "einen, der Hölle entstiegenen, Vatermördergeist, der herumschleicht, in dem Tempel der Natur, und an allen Säulen rüttelt, auf welchen er gebaut ist". Das jedenfalls meint 1809 der vom Vater belehrte Sohn in Heinrich von Kleists "Katechismus der Deutschen". Nur die "obersten Feldherrn etwa, und die Kenner der Kunst" dürfen Napoleons Geschicklichkeit anerkennen, und auch dies erst: "Wenn er vernichtet ist".

Kleist hatte, als er die volkstümliche Katechismusform für seine Kriegspropaganda aufgriff, allen Grund, sich gegen eine Bewunderung Napoleons zu wenden; früh schon war sie nämlich in Deutschland verbreitet. Barbara Beßlich unternimmt es in einer materialreichen und überzeugenden Studie, den deutschen Napoleon-Mythos in der Literatur zwischen 1800 und 1945 nachzuzeichnen. Dabei gelangt sie zu Ergebnissen, die dem erwartbaren Bild von kosmopolitischen Bewunderern des ausländischen Modernisierers einerseits, nationalistischen Napoleon-Hassern andererseits gründlich widersprechen.

Die politische Instrumentalisierung des Mythos ist recht bunt. Zu Recht verzichtet Beßlich fast vollständig darauf, die Napoleon-Bilder am aktuellen Forschungsstand über den französischen Kaiser zu messen oder auch daran, ob Schriftsteller das ihnen zeitgenössisch verfügbare historische Wissen adäquat aufarbeiteten. Ein ums andere Mal wäre zu konstatieren gewesen, dass die Mythen mit Geschichte wenig zu schaffen haben. Ergiebiger ist es hier deshalb, nach Geschichte und Funktion der Mythen selbst zu fragen.

Zunächst musste Napoleon überhaupt erst zur mythischen Figur werden. Der junge Revolutionsgeneral, der Italien die Freiheit brachte, war bereits Hoffnungsträger, stellte aber nicht selbst schon den Maßstab dar. So wurde seine Größe von den frühesten Bewunderern durch Vergleiche mit antiken Vorbildern, vor allem Prometheus, akzentuiert. Trotz aller Triumphe und aller Propaganda zur Zeit seines Kaisertums: Es bedurfte der Niederlage und zuletzt seines Tods in der Verbannung auf St. Helena, um ihn selbst zum Mythos zu erheben, an dem die Späteren gemessen werden sollten.

Im Deutschland der Restaurationszeit fiel der Vergleich durchgehend zuungunsten der Gegenwart aus. Statt heroischer Kämpfe schienen jetzt nur noch Kleinlichkeit und Händlergeist zu herrschen: "voll Halbheit, albernen Lugs und Tandes", wie Christian Dietrich Grabbe seinen Napoleon angesichts der Niederlage von Waterloo prophezeien ließ. Nun ist es die Unart vieler Dichter, ruhige Zeiten geringzuschätzen und sich an Katastrophen, die schließlich erstklassigen Stoff liefern, zu erfreuen. Beßlich weiß aber auch zu zeigen, dass über solche Kriegsnostalgie hinaus viele Autoren aus der Beschäftigung mit der napoleonischen Geschichte Impulse für eine produktive Auseinandersetzung mit der Gegenwart gewannen. Grabbe feierte nicht dumpf den großen Einzelnen, sondern erprobte in "Napoleon oder die hundert Tage" dramaturgisch das Verhältnis von individueller Verfügungsmacht und gesellschaftlichen Strukturen. Wilhelm Hauff nutzte 1827 in der Novelle "Das Bild des Kaisers" den Rückblick auf die Epoche der Revolutionskriege zu einer Auseinandersetzung mit der Romantik.

Heinrich Heine setzte sich über Jahrzehnte mit dem französischen Kaiser auseinander, um schließlich von früher Verehrung zu einem durchaus kritischen Blick zu gelangen: Zuletzt steht Napoleon als anachronistischer Monarch dar, der "nur Canonen" begriffen und in der Verteilung von Königstiteln an seine Brüder "ein modernes Mittelalter mit Pairs" wiederzuerrichten versucht habe, dem aber die beginnende industrielle Moderne mit Dampfschiffen und Maschinen fremd geblieben sei. Eben dies erschien wenige Jahrzehnte später dem Heine-Verehrer Friedrich Nietzsche gerade als attraktiv: Napoleon als aristokratischer "höherer Mensch" habe durch amoralisches Cäsarentum seine bürgerliche Umgebung überragt und sei letzter großer Gegner des späteren bürokratisierten Staats gewesen.

Beßlich zeigt hier exemplarisch, wie wenig sich die Mythenschreiber um Tatsachen scherten; Napoleon protegierte, wie es um 1800 fortschrittlich war, das französische Großbürgertum und schuf ihm den funktionsfähigen Staat, den dies zu seiner Konsolidierung brauchte. Wichtiger ist, aus deutscher Perspektive, das komplizierte Verhältnis zum Nationalismus, das sich in solchen Rezeptionen zeigt. In Kleists Katechismus waren "Napoleon und, solange er ihr Kaiser ist, die Franzosen" der Feind. Schon bald kehrte sich dies Verhältnis von üblem Herrscher und zukünftig akzeptablem Volk um: Die Franzosen blieben mit negativen Stereotypen belastet, ihr Kaiser, bei Kleist durch die Bezeichnung "Korsenkaiser" als Usurpator abgewertet, gewann dagegen an Ansehen. War ihm aus deutschnationaler Perspektive zu konzedieren, er habe wenigstens zur Ausbildung eines Nationalbewusstseins bei seinen Gegnern beigetragen, so verkehrte Nietzsche das Argument in sein Gegenteil: Gerade dies wurde zum einzigen Einwand gegen Napoleon. Diese positiv europäische, gleichwohl negativ auf Dekadenz fixierte Sicht wurde von Nietzsches Nachfolgern mehr und mehr verengt. Napoleon blieb der amoralische Große; doch vom Geniekult früherer Naturalisten über die Untergangsbegeisterung mancher Expressionisten bis hin zum Elitarismus des Stefan-George-Kreises wurde er nun mehr und mehr als genialisches Vorbild rezipiert und darin gar zuweilen deutschem Wesen angenähert. Wenn der George-Anhänger Berthold Vallentin über eine "Wesensgleiche zwischen Napoleon und den Deutschen" fabulierte, so stand er keineswegs isoliert da.

Entsprechend war, vom Beginn der Weimarer Republik an, Napoleon zwischen Rechten und Linken umkämpft. Hier schon bildeten sich die Positionen heraus, die dann zwischen NS-Autoren einerseits und solchen des Exils und der inneren Emigration andererseits eingenommen wurden. Grundsätzlich waren vier Positionen möglich: aus nationalistischer Perspektive Napoleon als Feind der Deutschen oder aber ihn als exemplarischen Führer, mochte er auch an Hitler nicht heranreichen, vorzustellen; aus Hitlerfeindschaft ihn als exemplarischen Liberalen zu loben oder aber ihn als eroberungssüchtigen und diktatorischen Vorläufer des Regimes zu denunzieren. Alle vier Positionen wurden, wie Beßlich zeigt, besetzt. Dieser mehrfach kodierte Konflikt bedeutete zugleich die letzte Phase eines intensiven literarischen Kampfs um Napoleon. Beßlich skizziert in einem kurzen Ausblick, wie nach 1945 der Stoff in den Hintergrund trat.

Weder ordnet sie die einzelnen Werke teleologisch einem widerspruchslosen Vorgang der Mythenproduktion unter, noch lässt sie auf postmoderne Weise einzelne Konfigurationen des Stoffs unverbunden nebeneinander stehen. Indem sie zwar Entwicklungslinien nachzeichnet, dabei aber sowohl die Werke in ihrem Eigenwert respektiert als auch - besonders für das frühe 20. Jahrhundert - das politisch begründete Gegeneinander unterschiedlicher Lesarten Napoleons zeigt, gelingt ihr weit mehr als bloß die Geschichte irgendeines Stoffs. Der literarische Napoleon-Mythos erhellt eine in sich konflikthafte Geschichte politischen Denkens in Deutschland, in der Ideen von Nation und Masse, Führertum und Fortschritt vielfache Verbindungen einzugehen vermochten.

Angesichts der Masse von Primärliteratur und selbst entlegener Forschung, die Beßlich aufgearbeitet hat, sind Wünsche nach Ergänzungen ein wenig unverschämt. Etwas unterbelichtet ist die gesamteuropäische Perspektive. Natürlich weiß Beßlich - und benennt es auch - in welchem Maße besonders im 19. Jahrhundert deutsche Autoren an einer europäischen Auseinandersetzung über Napoleon teilhaben. Sie zeigt dies auch exemplarisch, etwa anhand der Bedeutung von Gedichten Lord Byrons und Alessandro Manzonis für die literarische Verarbeitung von Napoleons Tod. Dies weckt den Wunsch, eines Tages eine komparatistische Studie zu lesen, die solche Kontexte systematischer klärt. Damit könnten manche von Beßlichs Ergebnissen in einen weiteren Zusammenhang gestellt werden, der auch für die Geschichte der Nationalpolitik noch Differenzierungen erlauben könnte.

Doch ist hier das geleistet, was angesichts eines umfangreichen und bislang von der Forschung unzureichend erschlossenen Textfundus' überhaupt zu leisten ist. Beßlichs nationale Beschränkung erweist sich zuletzt als legitim: Der deutsche Napoleonmythos als Mythos eines Nationalfeinds, der fast stets doch als Großer anerkannt wird und zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen über die Legitimität antitraditionalen Führertums zwingt, sagt wenig über Napoleon aus, manches über den politischen Mythos und viel über Deutschland.


Titelbild

Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800 bis 1945.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2007.
504 Seiten, 79,90 EUR.
ISBN-13: 9783534200252

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