Abschied ist immer, Rückkehr manchmal

Erzählungen von Jeon Sang-guk

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verlassen werden: Eine koreanische Familie lässt einen behinderten Sohn zurück, um in die USA auswandern zu können. Der Tyrann einer Schulklasse wird von Klassenlehrer und -sprecher raffiniert ausmanövriert und verliert die Unterstützung seiner Bandenkumpane. Ein Junge versucht, seinen zurückgebliebenen Bruder auf einem Berg auszusetzen - ein Wahrsager hatte der Familie prophezeit, dass der Kleine ihr Unglück bringen würde. Nicht, dass der Ältere an derartigen Unsinn glauben würde; aber nach Jahren des Leids, das durch diesen Aberglauben verursacht wurde, sieht er keinen anderen Weg mehr, die düstere Stimmung in der Familie zu überwinden. Ein Lehrer schließlich wird von einer Frau verlassen, die drei Jahre bei ihm gelebt hat.

Dennoch gilt Jeon Sang-guk in Korea, wie die Übersetzerinnen Kim Sun-hi und Edeltrud Kim in ihrem Nachwort verraten, als "Dichter der Heimkehr". Nun - so schlimm, dass, wie dort angedroht, "zu den Wurzeln echter Humanität vorgestoßen" würde, kommt es nicht. In zwei der vier Erzählungen, die in diesem Band gesammelt sind, vollzieht sich zwar tatsächlich eine Heimkehr. Die Ereignisse auf dem Berg nehmen ein gutes Ende, der ältere Bruder bringt den jüngeren doch noch nach Hause. Und in der Titelgeschichte liest der Halbbruder des zurückgelassenen Ahbe die Tagebücher der gemeinsamen Mutter. Dabei erkennt er, wie sehr die unheilvolle Familiengeschichte von Gewalterlebnissen im Koreakrieg geprägt ist und in welchem Maße die damals erfahrenen Handlungsmuster bis in die Gegenwart wiederholt werden. Er kehrt als US-Soldat in seine Heimat Korea zurück, erfährt dort Wichtiges über die Vergangenheit und mag sich so vielleicht mit dem Geschehenen versöhnen. Jeon erlaubt aber nur einen Blick auf die neue Stärke seiner Protagonisten - ihre Probleme sind auch am Ende der Erzählungen noch keineswegs gelöst.

Eine solche Kraft kann sogar auf Selbsttäuschung beruhen. Dies zu zeigen, ist der Vorzug von "Planarien". 2003 entstanden, handelt es sich um den bei weitem neuesten Text der Sammlung - die anderen sind in den Jahren 1979 und 1980 erstveröffentlicht. Der Biologielehrer, der eine Frau vor dem Suizid gerettet und drei Jahre mit ihr gelebt hat, ist nun wieder allein und vermag sich erst nach langen Monaten mit der neuen Situation abzufinden. Mit einer letzten Zeremonie an dem Ort, an dem er sie zuerst gefunden hat, vermeint er von ihr Abschied zu nehmen und endlich Ruhe zu finden. Später trifft er einige Male Frauen, in denen er die frühere Freundin wiederzuerkennen glaubt. Dann wechselt die Perspektive, zu jenen Frauen, die sich erinnern, Verzweiflung oder den "ganz schwarzen Blick" eines Fremden, der der Selbsteinschätzung gründlich widerspricht, wahrgenommen zu haben.

Trotz dieser Multiperspektivität ist "Planarien" die weitaus schwächste der Erzählungen. Allzu bemüht sind die Versuche, das Erleben des Biologielehrers mit seinen Forschungen zu Planarien und deren teils geschlechtlicher, teils ungeschlechtlicher Vermehrung zu verbinden; allzu aufgesetzt sind die Diskussionen über das Klonen von Menschen. Man weiß zwar nie, ob es ungeschickte Metaphorik oder kaum bewältigter Lesestoff ist, der die Hauptsache überwuchert. Leider aber erkennt man schnell, dass hier keine Ökonomie der Mittel herrscht.

Die beste der Erzählungen, "Die Tränen eines Idols", weckt dagegen fast schon Mitleid mit einem Teufel; denn als solcher wird der Sitzenbleiber Kipyo vom Musterschüler Yudae vorgestellt. Mit seiner Bande stiehlt, erpresst, foltert Kipyo und schafft es doch, sich nichts nachweisen zu lassen. Lange bleibt es ein Rätsel, weshalb man ihm mit großer Milde begegnet. Sogar eines seiner Opfer, das zusammengeschlagen wochenlang im Krankenhaus liegen musste, appelliert an das Verständnis der Mitschüler und schildert herzergreifend die schwierige Lage von Kipyos Familie.

Ein Appell für soziales Mitleid, gar für christliche Nächstenliebe? Greifbar sind indessen die Folgen im Bereich der Macht: Hatte der Teufel Kipyo seine Gefolgschaft, so gehorcht niemand mehr dem Sozialfall. Das Hilfsangebot isoliert den Täter, dem schließlich nichts übrig bleibt als wegzulaufen. Hier zeigt sich zuletzt keinerlei Humanität; der Klassenlehrer ärgert sich vor allem darüber, dass Kipyo gerade an jenem Tag verschwindet, an dem die Verfilmung seines mittlerweile berühmten Falls beginnen soll.

Ein solch scharfer Blick ist die Ausnahme in dem Band. Jeon kann - in den drei früheren Erzählungen - Personen und ihre Handlungen plastisch schildern. Er entwickelt Verläufe schnell und mit prägnanten Situationen, er macht Gefühle nachvollziehbar (auch wenn er sie vielleicht ein wenig zu oft erklärt). Ein Analytiker aber ist er nicht, und sein Versuch in der letzten Erzählung, die Entwicklung mit etwas wie einer biologisch vermittelten Lebensphilosophie zu verknüpfen, scheitert gründlich. So bleibt es bei drei Erzählungen, die, in ihren Grenzen, lesenwert sind.


Titelbild

Jeon Sang-guk: Ahbes Familie. und andere Erzählungen.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Kim Sun-.Hi und Edeltrud Kim.
Edition Peperkorn, Thunum 2008.
240 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783929181807

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