"Schwarz ist eine Farbe"

Grisélidis Réals autobiografischer Roman erstmals auf Deutsch

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Le noir est une couleur" ist der Originaltitel dieses Romans einer Prostituierten, der erstmals 1974 erschien und seither zwei Neuauflagen erlebt hat. Réal schildert, wie sie, die junge alleinerziehende Mutter, ihre zwei Kinder der Vormundschaft entreißt und auch noch ihren schwarzen Geliebten aus einer psychiatrischen Klinik befreit. Zu viert fliehen sie aus der Schweiz nach Deutschland.

Damals, Anfang der 1960er-Jahre, lernt die mittellose Frau Menschen kennen, die meist noch weniger besitzen als sie. Fasziniert von den Dancings, den Bars in Kasernennähe, wählt sie bewusst die Prostitution, nachdem ein erster Einstieg ins Gewerbe erfolgt ist, um sich und die Kinder von dem ständigen Hunger zu erlösen. Die Protagonistin erlebt Schläge, Verletzungen, kennt Abscheu und Ekel ebenso wie Ängste vor Gewaltausbrüchen der Freier. Doch ist da auch die Leidenschaft, die sie insbesondere mit schwarzen Männern erfährt. Und es muss dieses mit allen Sinnen gelebte Leben sein, das sie die belastende Armut in einem fremden Land aushalten und sie sogar Möglichkeiten, sich ihren Lebensunterhalt anders zu verdienen, ablehnen lässt. Unvorstellbar ist es für sie, sich einem Vorgesetzten unterwerfen zu müssen. Grisélidis Réal - und es ist ihre Geschichte, die sie erzählt - sprüht vor Lebensdurst und Lebenslust, und diese Gefühle sind es, die sie nicht verzweifeln lassen, auch wenn kaum noch ein Ausweg sichtbar ist.

Wärme und Anerkennung findet die Protagonistin aber nicht nur bei Männern, aufgehoben ist sie ebenso in einer Wohnwagensiedlung von Roma und Sinti, wo sie mit ihren beiden Kindern vorübergehend Unterschlupf findet. Sie wird als eine von ihnen aufgenommen, dort fühlt sie sich zu Hause, dort findet sie Unterstützung und bedingungslose Akzeptanz ohne falsche Moral, ohne Unverständnis für ihr Tun und auch ohne Verurteilungen. Trotzdem gibt es Auseinandersetzungen und Streit - was nicht erstaunt, wenn selbstbewusste, in ihrer Kultur verankerte Menschen zusammenkommen.

Grisélidis Réal kam 1929 in Lausanne zur Welt und wuchs in Alexandria auf. Nach dem Tod ihres Vaters - sie war acht Jahre alt - kehrte die Mutter mit ihren drei Töchtern in die Schweiz zurück. Grisélidis Réal studierte an der Kunstgewerbeschule in Zürich, bevor sie in den frühen Sechzigern nach Deutschland ging und als Prostituierte zu arbeiten begann. Nachdem sie eine sechsmonatige Gefängnisstrafe wegen Marihuanahandels abgesessen hatte, wurde sie aus Deutschland ausgewiesen und versuchte, erneut in der Schweiz, einen Ausstieg aus der Prostitution. Später kam sie in Frankreich mit der Prostituiertenbewegung in Kontakt und wurde eine ihrer wichtigsten Aktivistinnen. Diese Arbeit führte sie im Genfer "Solidaritätsverein für Sexarbeiterinnen" fort, bis zu ihrem Tod 2005.

Immer schon verstand sich Grisélidis Réal als Prostituierte, Aktivistin und Schriftstellerin. Und wo immer sie sich äußerte, wo immer sie war, war sie mit all ihren Sinnen, mit Körper und Intellekt, dabei. Eine Spaltung gab es nicht, ihr Lieben war ebenso grenzenlos wie es ihr Schreiben ist. Leidenschaftlich ist ihre Sprache, sinnlich, roh und gewalttätig wie das Leben, dem sie sich aussetzt, um es in all seinen Facetten zu erfahren. Sie stürzt sich in dieses Leben und stürzt immer wieder ab. Dieser Hunger, diese Leidenschaft sind hart zu lesen, wenn sie Grenzen überschreitet, in ihrem Alltag als Prostituierte ebenso wie in dem Text, der aus dieser Erfahrung entsteht. Dabei schützt Grisélidis Réal auch sich selber nicht. Manches ist schwer nachzuvollziehen und für Leute, die das Milieu nicht kennen, vielleicht nicht zu verstehen. Sätze wie "Ich habe sie [die Ohrfeige] verdient. Rodwell, du hast sie mir mit deiner großen Negerhand verpasst. Und für diese herrliche Ohrfeige preise ich dich noch heute" lassen Ratlosigkeit zurück, und nur zu gerne möchte man sie ironisch verstehen können. Obwohl sie es eher nicht sind.

Doch auf der anderen Seite ist von dieser Kraft, diesem Stolz zu lesen, die auch nicht versiegen, wenn es scheinbar keinen Ausweg mehr gibt. "Die Freiheit hat keinen Preis. Wir wissen es, das ist unsere Kraft, unsere Hoffnung. Wir werden bis zum Mond gehen, wenn es sein muss, wir werden den Raum für uns gewinnen, der uns zusteht, uns, die wir Balsam auf Wunden sind und Wasser in der Wüste, parfümiert, strahlend und verletzlich, süß und heftig. Frauen, Zauberinnen, Prinzessinnen mit all unseren Sinnen, Prinzessinnen des männlichen Begehrens."

Der autobiografische Roman mit dem auf Deutsch fragwürdigen, platten Titel "Erinnerungen einer Negerhure" - wie viel poetischer klingt doch "Schwarz ist eine Farbe" - ist Réals erste Veröffentlichung und erschien Mitte der 1970er-Jahre. In der Folge hat sie einen schmalen Band mit Aufzeichnungen veröffentlicht, die Hinweise zu einzelnen Freier enthalten und ihr als Gedächtnishilfe im Geschäft dienten, sowie zwei Bände mit Briefen und einen Gedichtband. Vor allem in ihrer Lyrik treten neben der Prostitution vermehrt auch die Themen Krankheit und Tod auf. Zunehmend nimmt die Krebserkrankung von ihr Besitz, doch Grisélidis Réal lässt sich nicht einschüchtern. Noch unter Morphium schreibt sie, und die Droge - auch sie - färbt ihre Texte. "Gewiss sind da immer Gefühle der Übelkeit, aber das sind Rosenblätter, die wirbeln, sich setzen und wieder auffliegen, ohne uns wirklich zu verstümmeln."


Titelbild

Griselidis Real: Erinnerungen einer Negerhure. Autobiografischer Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Marianne Schönbach.
Piper Verlag, München 2008.
313 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783492049559

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