Ich bin dann mal fühlen

Andreas Weber sehnt sich nach Körpern, deren "Lingua franca" die Emotionen sind

Von Anne PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt diese kunstvoll aquarellierten Bildtafeln Ernst Haeckels, auf denen der meeresbiologische Mikrokosmos, x-fach vergrößert und aquarienbunt eingefärbt, bis heute den Betrachter beeindruckt. Mit so poetischen Untertiteln wie "Discomedusae" oder "Radiolarien" zeigen die Bilder gallertartige Quallenornamente oder Strahlentierchen als Muster von Verbindungen und Überlagerungen. Ihre Stacheln, Fühler oder Tentakel vermitteln den Eindruck, alles sei über solche Fühler mit allem durchflochten und dennoch etwas Eigenes.

Wie Haeckel richtet sich auch der Biologe und Philosoph Andreas Weber in seinem Werk "Alles Fühlt" in gemeinverständlicher Weise an alle, die fühlen und lesen können. Und wie Haeckel interessieren ihn die Welträtsel, das Lebenswunder und die Beziehung zwischen Biologie und Kunst. Auch Haeckel wandte seine biologische Methode auf den Menschen an und versuchte gleichzeitig, die Natur zu vermenschlichen. Weber ebnet die Natur-Mensch-Differenz nun ein, für ihn sind Organismen "keine Uhrwerke, die aus sauber getrennten Bausteinen bestehen. Sie sind Einheiten, die von einer mächtigen Kraft zusammengehalten werden: dem Empfinden, was ihnen guttut und was ihnen schadet."

Sind diese drei vom Autor ständig wiederholten Grundthesen - der Lebensprozess ist kein Uhrwerk, auch Organismen sind empfindende Lebewesen und Fühlen heißt immer auch Werten - wirklich so revolutionär, dass wir unser Verhältnis zur Natur komplett überdenken müssen, wie manch eine Rezension verzückt-erstaunt schlussfolgert? Schon Haeckel, der außer auf Webers knalligem Titelbild unerwähnt bleibt, spricht anthropomorph von Organismen, die "Lust bei Verdichtung, Unlust bei Spannung" empfinden. Lange vor Haeckel kritisierten bereits Alexander von Humboldt, Georg W. F. Hegel und Friedrich Hölderlin die mechanistische, automatenhafte Auffassung von Natur und Mensch. Hölderlin etwa beschrieb "die ewige Sehnsucht des Menschen nach Einheit mit sich und der Natur, also mit sich und der Welt", und Hegel definierte das Leben als teleologische, sich selbst organisierende Entität. Weber beschwört immer wieder diese Sehnsucht nach Natur, die heute fatalerweise im Schwinden begriffen sei. Er setzt bei seinen Einfühlungen in die Natur auf die Idee der Selbstorganisation. Dennoch findet sich bei ihm kein Hegel, kein Humboldt, kein Hölderlin. Stattdessen geht er zurück bis zu Aristoteles und mit dessen Teleologie und Seelebegriff schreitet er direkt voran zu den Autopoiesis-Theoretikern (vor allem Francisco Varela, Lynn Margulis und Jakob von Uexküll). Er entwickelt eine "Wissenschaft des Herzens", die sich gegen "Kreationisten" und "Evolutionisten" wendet.

Das aristotelische Streben nach Sein und die den Organismus zusammenhaltende Seele werden als Grundaxiom gesetzt und mit einem an Margulis angelehnten Symbiosegedanken einer Verschmelzung von Seele und Natur kombiniert. Aus Aristoteles' animal rationale wird das animal poeticum, das Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermaßen bezeichnet. Heraus kommt ein bizarrer Pseudo-Freud: "Was eben noch Korn auf dem Feld war, 'Es', ist nun bereits 'Ich'. Aber dieses Ich ist stets ein anderer, weil es nicht aus 'meinen' eigenen spezifischen Stoffteilchen besteht, sondern weil der Stoff, der mich bildet, beständig wechselt". Die Erde ist demnach ein lebender Organismus - eine Welt-Seele - und der Tod des Korns ist lediglich ein zirkuläres Tauschen eines Stoffes mit einem anderen. (Bei Weber bekommt so das Wort Es(s)störung eine ganz neue Bedeutung). Der Autor gießt seine Erkenntnisse begeistert in drei Gesetze. Das "Erste Gesetz der Sehnsucht" bewirkt, dass alles, was lebt, mehr Leben will. Das "Zweite Gesetz der Sehnsucht" besagt, dass dieses Streben niemals unsichtbar sei, sondern in den Regungen des Körpers nach außen strahle. Das "Dritte Gesetz der Sehnsucht" lautet schließlich, dass wir den Blick des Allerfremdesten brauchen, um uns selbst zu verstehen: "Den Blick des stummen Molchs." Warum gerade der schweigende Blick des Molchs? Weil keine andere Tiergruppe stärker vom Aussterben bedroht sei als die Amphibien.

Weber inszeniert sich durch zahlreiche persönliche Erfahrungsberichte und Lebensweisheiten als sympathisch-staunenden Jungen, dem regelmäßig vor lauter Begeisterung über seine Erkenntnisse der Atem stockt. Ein Schwiegermuttertyp, der schon in früher Jugend Krötenzäune bastelte, anstatt auf schmutzigen Mofas mit Zigarette im Mundwinkel Mädchen hinterherzupfeifen und der auch überhaupt nicht verstehen kann, wieso eine Freundin, "ohne einen Zentimeter zu bremsen", einfach so mit dem Auto Suizid begehen konnte. Es wird dem Leser zunächst nicht klar, warum er das erwähnt, aber dieser Freitod dürfte für Weber die Grenze der Empathie markieren. "Angesichts des Todes erst lebensfähig zu werden", wie Hölderlin schreibt, ist auch Webers Leitspruch, aber sich bei vollem Bewusstsein bereits vor dem natürlichen Absterben einfach so wegzuwerfen, muss ihm schon durch sein Grundaxiom fremder als des Molches Blick erscheinen.

Oberstes Ziel seiner von dem Biosemiotiker Kalevi Kull übernommenen "Schöpferischen Ökologie" ist die Selbsterhaltung aller Lebewesen. Für Weber handelt es sich um eine völlig neue, zutiefst bestaunenswerte Idee, die dem westlichen Denken nicht entspreche und erst noch gelernt werden müsse. Wie kann dem studierten Philosophen Weber entgangen sein, dass Gedanken zur Selbstorganisation von Hegel schon vor fast 200 Jahren entfaltet wurden?

Die Antwort lautet, dass Weber die zentrale Hegel'sche Frage, wie man sich den Übergang des sich selbst begrenzenden Organismus zum (Selbst-)Bewusstsein denken könne und wie das Leben die autopoietische Schließung möglicherweise aufzubrechen vermag, schlicht und ergreifend nicht interessiert. Hegels Reflexivität unterscheidet sich von der Selbstorganisation des Organismus durch abstrahierendes Denken. Abstrahierendes Denken meint eben gerade auch die (selbst-)bewusstseinskonstituierende Fähigkeit, das organische Ganze des Lebens zerteilen und zergliedern zu können. Das Zerstörerische, Gliedernde, Gewaltsame darf nach Weber nur sein, wo es im Tausch wieder Neues schafft. Der Tod trennt nicht "wie ein stählernes Messer" die Individuen voneinander ab, sondern bedeutet Verschmelzung.

Die Kinder, diese "pädagogischen Naturtalente", achten nach Weber die "jüngfräulichen Verhältnisse zu den belebten Dingen". Aber hat Weber wirklich noch nie ein Kind beobachtet, wie es einen Regenwurm, jenen "sanftesten aller Erdenbewohner", lustvoll-fasziniert mit der Gartenschere in zwei Hälften schneidet oder ohne jede Not einer Spinne ein Bein ausreißt?

Weber ringt dann auch mit sich, die gefühlten Eigenschaften mentaler Zustände zu erklären und sich somit dem Problem stellen zu müssen, diese Gefühle durch Sprache zwangsläufig abzutöten. Er ahnt, dass Gefühle zwar von Texten benannt werden können, nicht aber in den Texten selbst liegen. Zugleich weiß er aber auch, dass Texte Gefühle beim Leser hervorrufen können und somit die Hoffnung besteht, der tote Text könne wieder in den zirkulären Prozess des Lebens eingehen. Er bittet den Leser daher um Nachsicht, denn um die durch Sprache repräsentierten Gefühle "zu verstehen, müssen wir ein wenig unseren Kopf einziehen und gleichsam durch die komplizierten Windungen des Gehirns kriechen. [...] Wer mag, kann dieses Kapitel freilich auch ohne entscheidenden Verlust für den Gedankengang überschlagen."

Der Gedankengang ist schnell nacherzählt: Es geht Weber um Augenblicke, in denen man in seinem Fühlen vollkommen präsent ist; so wie ein schlafendes und somit nicht bei Bewusstsein seiendes Kind. Das Kind zeige - zweites Gesetz der Sehnsucht! -, was ihm widerfährt. Zum Beispiel durch einen sich im Schlaf bewegenden Finger. Auf gleiche, unmittelbar körperliche Weise würde sich nach Weber auch ein "Fötus, der sich gegen die Instrumente des Arztes mit Händen und Füßen wehrt", ausdrücken. Dieser Fötus rast freilich nicht bei vollem Bewusstsein mit dem Auto gegen die Wand, weshalb ihm, im Unterschied zu Webers den Freitod wählender Freundin, sein innigstes Mitleid zuteil wird.


Titelbild

Andreas Weber: Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaft.
Berlin Verlag, Berlin 2007.
350 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783833304231

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