At night alone

Anne Sexton, gelesen von Hannelore Elsner und Corinna Harfouch

Von Kolja MensingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kolja Mensing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die amerikanische Lyrikerin Anne Sexton in ihrem Gedichtband "Verwandlungen" Märchen nachdichtete, legte sie besonderen Wert auf die Details, die die Brüder Grimm verschwiegen hatten. So erfährt man, dass Rapunzels Haar "so fest wie eine Hundeleine" ist, dass das Rumpelstilzchen "so piepsig wie ein Hörgerät mit Trumans geschlechtsloser Stimme" spricht, und dass die schöne Müllerstochter, die unter Androhung der Todesstrafe Stroh zu Gold spinnen soll, noch nie in New York war: "Armes Ding, sterben müssen und niemals Brooklyn sehen." Die "Transformations", die Anne Sexton 1972 ihrer Tochter Linda gewidmet hatte, sind lustig, die ansonsten eher traurige Dichterin scheint sich in den Erzählungen der Gebrüder Grimm wohlgefühlt zu haben.

Hannelore Elsner liest jetzt zehn der ursprünglich siebzehn Märchengedichte auf dem Hörbuch "Verwandlungen". Dass es ihr Spaß macht, spürt man: "Vor langer Zeit ereignete sich ein seltsamer Betrug: Ein Wolf zog sich Rüschen an, eine Art Transvestit, aber ich greife meiner Geschichte vor.", die liest sie genauso ernst wie die traurigen Epiloge und die kleinen Kommentare, die Anne Sexton zwischen die Zeilen gerückt hat: "Ohne Thorazin oder Beihilfe von Psychotherapie wurde Eisenhans verwandelt, kein Bedarf an Meistermedizinern, kein Bedarf an Elektroschocks", steht da über den wilden Mann aus dem Wald.

Die lustige Anne Sexton, die in den "Verwandlungen" spricht, ist die Ausnahme, die ernsthafte Anne, die hier seltener zu Wort kommt, ist vermutliche die Wahrere. Anne Gray Sexton, geborene Harvey, kam am 9, November 1928 in Newton, Massachusetts zur Welt. Am 8. November 1956 wird sie noch einmal geboren: an diesem Tag unternimmt Anne Sexton ihren ersten Selbstmordversuch und wird während der anschließenden psychiatrischen Behandlung dazu ermutigt, Gedichte zu schreiben. Fortan lebt sie - bis zu ihrem letzten, erfolgreichen Selbstmordversuch im Jahr 1974 - in einem instabilen Spannungsfeld aus Mittelstandsehe, Psychotherapie plus medikamentöser Behandlung und Lyrikproduktion: "Dann dachte ich: okay, wir kommen nicht miteinander aus, wir sollten uns scheiden lassen", schrieb Anne Sexton in einem Brief über ihren Mann, "aber ich komme allein nicht zurecht. Und die Lyrik aufzugeben oder die Therapie aufzugeben, bedeutet ungefähr das gleiche."

"Ich bin wie ein lebender Stein" heißt ein zweites Hörbuch, eine Collage aus Briefen und Gedichten Anne Sextons, gelesen von Corinna Harfouch. Harfouch spricht Anne Sexton, dunkel, rauchig und angemessen verzweifelt, aus den Brieffragmenten werden Gedichtzeilen und umgekehrt. Und dann "Die Ballade von der einsamen Masturbation" - Überall lieben sich die Mädchen und Jungen, "zerren an Blusen - und Hosenknöpfen", und eine liegt allein da, stolz, unglücklich, erregt, einsam: "Es erschrickt, / wer mir zusieht. Ich bin satt. / At night, alone, I marry the bed". Corinna Harfouch versetzt sich ganz und gar in die Situation: liest die wichtige Schlusszeile, ganz ruhig über ein paar dumpfen Akkorden, und aus Anne Sextons Gedicht wird ein dunkler Popsong: "unter den Fingerspitzen ein Piano... At night alone, I marry the bed." Sex pur.

Auf diese Art wird die eine oder andere Bedeutungsebene in Anne Sextons Gedichten vielleicht verkannt, wenn nicht sogar vernachlässigt, besonders deutlich wird dies, wenn ein paar Tracks später Anne Sextons Verzweiflung plötzlich einfach nur noch Verzweiflung ist. Aus dem traurigen Grund der Seele steigen keine sinnlichen Gedichte mehr auf, nur gestammelte Sätze: "Nicht einmal Schriftstellerin genug, um das Unfertige hinzubekommen, ah, zum Teufel, vielleicht kann ich wieder mit, oder mit irgendwas, vielleicht, bitte, Gott, ist es ja doch heilbar. Wenn nicht, was soll ich dann machen? Ich, ein Stein..." Zum Schluss, hört man dann Anne Sexton selbst. Sie liest ein paar Zeilen aus ihrem Gedicht "Her Kind", über eine Frau, die wie der wilde Eisenhans ist. Merkwürdigerweise sind es diese paar Zeilen, die die ganze Collage beisammen halten: "A woman like that is misunderstood / I have been her kind."

Titelbild

Anne Sexton: Verwandlungen. Gelesen von Hannelore Elsner, CD.
Schumm sprechende Bücher/Jutta Steinbach Verlag, Mainhardt-Hütten 1998.
17,80 EUR.
ISBN-10: 3980555089
ISBN-13: 9783980555081

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Titelbild

Anne Sexton: Ich bin wie ein lebender Stein. Gelesen von Corinna Harfouch, CD.
Schumm sprechende Bücher/Jutta Steinbach Verlag, Mainhardt-Hütten 2000.
17,80 EUR.
ISBN-10: 388698916X
ISBN-13: 9783886989164

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