Rebell, Volksheld und Abenteurer

Jewgeni Jewtuschenkos Anmerkungen zu seiner Autobiographie

Von Doris BetzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Betzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Wolfspass" zeichnet im zaristischen Russland die Aufsässigen, die jungen Rebellen aus. Er bedeutet eine offizielle Bestätigung über moralische oder politische Unzuverlässigkeit. Und er bedeutet, dass der eingeschlagene Weg nicht der einfache ist. Wer seine Autobiographie unter diesen Titel stellt, bekennt sich stolz als Aufrührer.

Jewgeni "Shenja" Jewtuschenko hat seit über einem halben Jahrhundert eine nicht unumstrittene Gratwanderung gewählt, einen Weg zwischen Popularität und Schmähung, zwischen Volkskunst und Elitebewusstsein. Von einem Balanceakt zwischen den Extremen zeugen die "Abenteuer eines Dichterlebens", so der Untertitel der deutschen Übersetzung von Thomas Reschke. Der deutschen Fassung zugefügt wurden dankenswerter Weise Glossar und Verzeichnis der wichtigsten Personen, die eine Einordnung der bekannten und weniger bekannten russischen Namen und Bezeichnungen erleichtern. Das russische Original erschien 1998 in Moskau.

In assoziativen Rückblicken beleuchtet der selbst ernannte russische Volksdichter die Höhe- und Tiefpunkte seiner Vergangenheit, von frühester Jugend bis in die neunziger Jahre. Jewtuschenko erzählt mit seiner Geschichte zugleich die jüngere Historie Russlands anhand von Begegnungen mit Zeitgenossen, die seinen Weg kreuzten oder deren Weg er kreuzte. Die Namen seiner Weggefährten kennen wir - es sind die Köpfe des zwanzigsten Jahrhunderts: der große Boris Pasternak, der von Jewtuschenko göttergleich verehrt wird. Warren Beatty, der "Shenja" als Schauspieler gewinnen will. Pablo Picasso, der ihm ein Bild schenkt. Dmitri Schostakowitsch, der seine 13. Symphonie nach Jewtuschenkos berühmter Dichtung "Babi Jar" komponiert. Robert Kennedy, Heinrich Böll und Federico Fellini. Von diesen Begegnungen zeugen neben hinreißenden und liebevollen schriftlichen Porträts auch eine Reihe von Photos im Mittelteil der mächtigen Autobiographie.

Andere Zeitgenossen, ebenfalls namentlich genannt, erfahren deutliche Schmähungen: "Während der ,allerersten' Begegnung spielte Leonid Sobolew eine üble Rolle. Er, der sich immer mit seiner untertanentreuen Parteilosigkeit dicketat, konnte sich nun endlich über die Unterschätzung seiner Person durch die von ihm so heißgeliebte Sowjetmacht beschweren. [...] Auf solch hemmungslose Weise bekam dieser Behelfsintelligenzler nicht nur eine beheizbare Garage, sondern auch den Schriftstellerverband der RSFSR, dem er prinzipienlos und pompös viele Jahre vorsaß." Solch harte Worte findet der Dichter, wenn seine Lebensmaxime der Brüderlichkeit unter Menschen verletzt wird, denn die Menschen sind "eigentlich alle Verwandte, die einander nur noch nicht begegnet sind". Und so ist jeder Krieg letztendlich ein "Bruderkrieg". Jewtuschenko ist mit dem russischen Staatssystem, dem Schriftstellerverband, Funktionären und der Zensur bestens bekannt und fasst seine Erkenntnisse in beängstigend klare Bilder: "Nach dem Krieg war er den Machthabern gar zu berühmt. Nach einer erniedrigenden Tracht Prügel beschlossen sie, ihn durch rücksichtsloses Ausnutzen zu demütigen [...]. Sie setzten ihn nicht hinter Stacheldraht, aber der wuchs rostig zwischen den Tasten des Konzertflügels hervor und riß ihm die Fingerspitzen blutig." So seine Beobachtungen zum Umgang des russischen Regimes mit dem Komponisten und Freund Schostakowitsch.

Streng ist der Dichter auch gegen sich selbst: eigene Irrungen und Eitelkeiten offenbart er dem Leser in entwaffnender Direktheit (und manchmal, so scheint es, auch gegen den eigenen Willen): "Ovationen flogen, wie schneeweiße Möwen, aus allen Ärmeln, und das Genie stand auf der Bühne über dem tobenden Applaus und verbeugte sich unbeholfen. Und plötzlich kam er an den Rand der Bühne und applaudierte selbst [...]. Die Leute in den ersten Reihen drehten sich um und applaudierten auch. Ich drehte mich ebenfalls um und hielt Ausschau, wem der Applaus galt. Da tippte mir der Direktor [...] auf die Schulter, strahlend und zugleich verärgert: ,Warum gehen Sie nicht auf die Bühne? Sie sind gemeint...' Ob Sie´s glauben oder nicht - aber als ich die Symphonie hörte, vergaß ich beinahe, daß der Text von mir war [...]." Doch Koketterien wie diese seien ihm verziehen, denn "Genies haben für Bescheidenheit keinen Sinn, sie sind zu sehr von wichtigeren Dingen in Anspruch genommen."

Bereits als Student wird Jewtuschenko als jüngstes Mitglied in den Schriftstellerverband aufgenommen, zu dem er eine Art Hassliebe entwickelt. Der russischen Zensur zum Trotz ernennt er sich in den fünfziger Jahren zum Sprachrohr seines Volkes. Seine Gedichte lernen die Menschen seiner Generation auswendig, seine Lesungen werden zum Teil von Tausenden von Menschen besucht. Das reichhaltige Œuvre des Dichters hat aber auch den Weg über die russischen Grenzen hinaus gefunden: seine Werke sind in 72 Sprachen übersetzt, seit den sechziger Jahren werden seine Gedichte auch in Deutschland rezipiert. Zu den bekanntesten Stücken gehören neben "Babi Jar" das riesige Versepos "Das Bratsker Wasserkraftwerk" (1964), "Wo die Beeren reifen/Beerenreiche Gegenden" (1984), "Reden über Deutschland" (1990). Er wird im Inland wie im Ausland mit Auszeichnungen gewürdigt, 1999 verleiht ihm die "New York Times" den Titel "berühmtester lebender Dichter der Welt". Die gelungene deutsche Übersetzung seiner Autobiographie lässt die sprachliche Brillianz Jewtuschenkos erahnen - glücklich derjenige, der sie, wie seine Gedichte, im russischen Original lesen kann. Auszüge der deutschen Nachdichtungen werden dem Leser nicht vorenthalten, sie fließen immer wieder fragmentarisch in die Erzählungen des Dichters ein.

Der "Wolfspaß" vereint nun ein Stück Zeitgeschichte, eine fesselnde Biographie einer charismatischen Persönlichkeit und das Zeugnis eines Bedürfnisses des Kosmopoliten Jewtuschenko nach Humanität und Achtung unter Menschen. Jewgeni Jewtuschenko war und ist sicherlich einer der Bevorteilten seines Landes: er hat stets das große Glück der Freizügigkeit genossen, seine zahlreichen Reisen ins europäische und amerikanische Ausland konnten ihm, wohl aufgrund seiner internationalen politischen Beziehungen sowie seiner weltweiten Popularität, nicht versagt werden. Sie mögen ihm geholfen haben bei seiner Aufgabe, sein Anliegen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mit den Worten des Dichters: "Die Autobiographie eines Dichters, das sind seine Gedichte. Alles übrige sind nur Anmerkungen zu seiner Autobiographie. [...] Das Werk eines Dichters ist nicht nur ein sich bewegendes, atmendes, klingendes Porträt der Zeit, sondern auch ein Selbstporträt, ebenso umfangreich und expressiv gezeichnet." Die umfangreichen Anmerkungen zu seinem Werk sind Jewgeni Jewtuschenko ganz ausgezeichnet gelungen.

Titelbild

Jewgeni Jewtuschenk: Der Wolfspaß.
Verlag Volk & Welt, Berlin 2000.
368 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3353011730

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