Von Menschen und Vögeln

Marcel Beyers "Kaltenburg" blickt aus der Vogelperspektive auf das 20. Jahrhundert

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Natürlich geht es in Marcel Beyers neuem Roman "Kaltenburg" nur vordergründig um Vögel und Vogelkunde. Auch wenn die Titel- und Hauptfigur, der Zoologe Ludwig Kaltenburg, ein auf den ersten Blick ziemlich schräger Vogel ist. Und auch wenn die von beachtlichem Fachwissen zeugenden Passagen mit ornithologischen Beobachtungen gut recherchiert sind und sich der Roman in dieser Hinsicht vergleichen lässt mit Beyers nun schon vor dreizehn Jahren erschienenem Erfolgsbuch "Flughunde" (1995), in dem der Autor Aspekte der zuvor akribisch studierten Medizingeschichte des Dritten Reiches verarbeitet hat. Der Blick auf die Welt aus der Vogelperspektive bleibt trotzdem ein Blick auf die Menschenwelt - mit freilich ganz neuen und anderen Erkenntnissen. Und das liegt nicht nur daran, dass Kaltenburg die Vogelwelt zu einer Zeit beobachtete, als der Normalbürger noch nicht wusste, dass der Virustyp H5N1 mit der Vogelgrippe zu tun hat.

Ludwig Kaltenburg ist ein Gelehrter vom alten Schlage, der sich nicht mit der Umstellung auf BA-Studiengänge befassen musste und daher sein ganzes Leben nicht nur mit leidenschaftlicher Begeisterung und kompromissloser Hingabe der Erforschung der Tier- und im Besonderen der Vogelwelt gewidmet und diese Wissenschaft als Passion verstanden hat, sondern für den sich stets auch aus dem Studium der Tierwelt Rückschlüsse auf menschliche Verhaltensweisen herstellen ließen. Das gilt auch und vor allem für seine 1964 publizierte Schrift "Urformen der Angst", die ihn über die Fachgrenzen hinaus berühmt machen und auch in finanzieller Hinsicht ein Erfolg werden sollte. Aber das Buch, namentlich ein Kapitel über die "namenlose Angst" und dem darin beschriebenen "Verhältnis zwischen Tier und Mensch unter Extrembedingungen", erregte auch heftigen Widerspruch.

Anfang des 20. Jahrhunderts in Österreich geboren, bekleidet Kaltenburg in den 1940er-Jahren eine Professur in Königsberg, bevor er nach dem Krieg nach Dresden und später nach Leipzig übersiedelt. Die Hauptschaffenszeit Ludwig Kaltenburgs fällt also mit gleich zwei autoritären und diktatorischen politischen Systemen zusammen, unter denen er als Ornithologe forschen muss und die gleichzeitig den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Romans bilden. Wer nun meint, Beyer habe einen historischen Wissenschaftlerroman - vor der Kulisse deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts - geschrieben, der spätestens seit Daniel Kehlmanns "Die Vermessung der Welt" zu den heute populären und überaus erfolgreichen Gattungen auf dem Buchmarkt gehört, täuscht sich allerdings gewaltig.

Denn Beyers Romanfigur ist frei erfunden - wenn sie auch starke Züge des Verhaltensforschers Konrad Lorenz trägt und sich teilweise auch dessen akademische Stationen aus Kaltenburgs Vita herauslesen sowie andere Nebenfiguren etwa als Joseph Beuys oder Heinz Sielmann erkennen lassen. Aus all dem ist aber weder ein Schlüsselroman noch eine trockene Wissenschaftlerbiografie oder ein Propädeutikum moderner Geschichte geworden. Das hängt maßgeblich mit einem erzählerischen Kunstgriff Beyers zusammen, der die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Kaltenburgs Schüler Hermann Funke erzählen lässt, die damit auch seinem Erinnerungsvermögen und -verlusten, in jedem Falle aber seiner Sicht der Dinge verpflichtet ist. Doch eigentlich handelt es sich bei dem, was der Leser teilweise nur in Andeutungen über Kaltenburg erfährt, um einen Bericht, den Funke in Gegenwart einer Dolmetscherin erstattet, die ihn ursprünglich nur aufgesucht hatte, um für einen neuen Auftrag von Funke etwas über Ornithologie zu erfahren. Nur an wenigen Stellen wird Kaltenburgs Erinnerungsfluss von dialogischen Passagen mit der Dolmetscherin unterbrochen, die auch den Leser daran erinnern, dass er hier Zeuge eines Gespräches ist, das sich zeitlich über insgesamt ein halbes Jahr erstreckt und hier auf knapp vierhundert Seiten zusammengefasst ist.

Kaltenburg und Funke begegnen sich zum ersten Mal im Spätherbst 1942 in Posen, wo die Eltern des Ich-Erzählers leben, der zu diesem Zeitpunkt noch ein Jugendlicher ist. In der Bombennacht von Dresden im Februar 1945 verliert Funke seine Eltern und wächst als Waise auf, bis er Kaltenburg dann als Student in dessen mittlerweile schon renommierten Dresdner Institut im vornehmen Viertel Loschwitz wiederbegegnet. Obwohl Kaltenburg fortan Funkes Mentor wird und der junge Student seinem Ziehvater einiges zu verdanken hat weckt die Zusammenarbeit mit Kaltenburg bei Funke gleichzeitig auch Erinnerungen an die Eltern und den Tag, als Kaltenburgs Name im Elternhaus plötzlich tabu war.

Die Gründe für den Bruch der Eltern mit Kaltenburg - seine angebliche Mitgliedschaft in der NSDAP - ahnt Funke erst nach Jahrzehnten. Aber nicht diese Entdeckung erscheint in Funkes Kaltenburgbild als große Wende. Denn der Roman besitzt neben der Titelfigur mit dem Ich-Erzähler noch eine zweite Hauptfigur, über die der Leser eigentlich noch mehr erfährt als über Kaltenburg. Und um das Seelenleben, die frühen Verletzungen und nie abgelegten, im Alter sich noch verstärkenden Unsicherheiten im Umgang mit der eigenen Vergangenheit und Erinnerung geht es auch, wenn Funke die Hintergründe für das Zerwürfnis der Eltern mit Kaltenburg zu ahnen beginnt.

Die Eltern kann er nicht mehr fragen, letzte Gewissheit daher auch nicht finden, sondern nur vermuten. Im Rückblick wird gerade durch die ohne Affekthascherei auskommende Darstellung persönlicher Verluste die traumatische Langzeitwirkung jener Bombennacht in der Person Hermann Funkes anschaulich. Die Kindheitspassagen gehören mithin zu den stärksten Passagen des Buches, das damit auch ein Text über eine verlorene und durch den Tod der Eltern abrupt beendete Kindheit ist, in der sich - durch die Heimatstadt Posen - auch politische Zeit- und Territorialgeschichte verdichten. Auch wenn diese Kindheit für Funke aufgrund der ebenfalls als Naturwissenschaftler arbeitenden Eltern eine Zeit einsam verbrachter Nachmittage gewesen ist, die bestenfalls die Gesellschaft des Kindermädchens kannten, erscheint ihm diese Episode seines Lebens im Nachhinein als eine glückliche - wäre es doch hier noch möglich gewesen, mehr über die eigenen Eltern zu erfahren. Je mehr Funke sich an Kaltenburg erinnert, desto schmerzlicher kommt ihm zu Bewusstsein, wie wenig er über seine eigenen Eltern weiß - und gerade diese Diskrepanz bildet immer wieder den Fluchtpunkt von Funkes Bericht.

Doch seine Erinnerungen auch an Kaltenburg zwängen sich nicht in ein chronologisches Korsett, noch ist sein Blick vom vorletzten Jahr des 20. Jahrhunderts auf den schon 1989 gestorbenen Kaltenburg von Objektivität geprägt. Seine Erinnerungen sind bruchstückhaft. Erst gar nicht und dann nur ausschnitthaft in Erfahrung Gebrachtes über Kaltenburgs Rolle in der Nazi-Zeit und der DDR vermischt sich mit Kindheitserlebnissen und späteren Beurteilungen des Ersatzvaters. Hinter den tausend Erinnerungsbruchstücken mag zwar eine Welt entstehen - jene der deutsch-deutschen Geschichte -, doch wird daraus noch lange kein zusammenhängendes Leben. So ist der Leser ständig konfrontiert mit An- und Umdeutungen des Erinnerten, die alles andere als Klarheit schaffen und immer wieder ein neues Bild sowohl vom Ich-Erzähler als auch von Kaltenburg ergeben.

Wenngleich Funke nach und nach die Mosaiksteine seines Lebens zusammensetzt und dabei beiläufig auch historische Ereignisse und Namen - wie der Tod Stalins oder der vom Regime in einem geheimen Prozess verurteilte Arbeiterfunktionär Paul Merker - im Zusammenhang mit Kaltenburg Erwähnung finden, bleibt sowohl dessen Rolle in der Nazi-Zeit als auch sein Verhältnis zum DDR-Regime undurchsichtig. Je mehr Funke annimmt, den bewunderten Lehrer und Ersatzvater zu kennen, desto mehr rückt dieser in unerreichbare Ferne: "Aber natürlich erzähle ich dir nicht alles, wo denkst du hin?" Umgekehrt verfügt Kaltenburg offenbar über die Gabe, "Menschen ihre Geheimnisse zu entlocken, von denen sie selbst nichts wussten", ohne dabei aber eigene Geheimnisse preiszugeben. So berichtet Funke, dass Menschen "unter Kaltenburgs Anleitung in Tiefen hinabgestiegen [seien], in die sie sich ohne den Professor niemals vorgewagt hätten, von Tiefen aber wollte Kaltenburg nichts hören".

Funkes Bericht ist die Bestandsaufnahme einer versuchten, aber immer wieder gescheiterten Annäherung an eine Überfigur, ein kühler Blick in ein kaltes Herz. Die zahlreichen Passagen athmosphärisch dicht beschriebener Naturbeobachtungen und -stimmungen weisen dabei zurück auf den von Beobachtung geprägten Beruf Funkes und Kaltenburgs. Wenn auch der Roman nach seiner grandiosen Eröffnung, in der sich der Ich-Erzähler erst spät als derjenige zu erkennen gibt, der auf den ersten Seiten Kaltenburg vorgestellt hat, so sind es doch gerade die Glaubwürdigkeit dieses Erzählers und die schlüssige, ohne pseudopsychologische Erklärungsmuster auskommende Darstellung seiner Erinnerungen, die auch über die schwächeren Kapitel hinwegtrösten.


Titelbild

Marcel Beyer: Kaltenburg. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
400 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419205

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