Im Tigersprung

David Wellberys Neue Geschichte der deutschen Literatur

Von Martin HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literaturgeschichte hat nicht eben Konjunktur im Fach Literaturwissenschaft. Die großen Projekte einer Sozialgeschichte der (deutschen) Literatur sind weitgehend abgeschlossen - und neue sind nicht hinzugetreten. Die Literaturgeschichte ist in Übersichtbänden zusammengefasst zum Prüfungsstoff im Studium geworden, aber Gegenstand literaturtheoretischer Debatten ist sie gegenwärtig nicht mehr. Offensichtlich gehört die Literaturgeschichte bereits zum impliziten Wissen des Faches. Wir nutzen die Begrifflichkeiten etwa bei den Epochenbegriffen, machen unsystematisch und unkontrovers Anleihen bei diversen Ansätzen dazu, wie historische Entwicklungen und Literatur zusammenhängen können, ohne einem disziplinär anerkannten Standardmodell zu folgen. Eher gehört es zum Selbstverständnis im Fach, dass Literaturgeschichte ein problematisches, weil irgendwie überholtes Konzept sei.

Kein leichtes Umfeld also für neue Literaturgeschichten. Wer heute eine solche vorlegt, braucht eine ganz neue Idee - so scheint es. Wellberys 2004 als "A New History of German Literature" und im Herbst 2007 auf deutsch als "Eine neue Geschichte der deutschen Literatur" erschienene, einbändige Literaturgeschichte hat dieses neue Konzept mitgebracht. David Wellbery verantwortet als Hauptherausgeber (zusammen mit Judith Ryan, H.U. Gumbrecht u.a.) des voluminösen Konzepts von Literaturgeschichtsschreibung, das auf etwa 1.200 Seiten fast 200 Essays zur deutschen Literatur von 744 bis 2001 versammelt. Jeweils von einem Datum und einer Schlagzeile ausgehend, versuchen die Artikel die Einzigartigkeit des literarischen Ereignisses zu fassen. Erst beim Lesen enthüllt sich, welcher konkrete literarische Text den Anlass liefert: "Um 1200 / Das Nibelungenlied wird im bayerischen Passau verfasst"; "1478 / Als Jakob Fugger das Bankhaus seiner Familie übernimmt, expandiert der Handel bis zum Fernen Osten und in die Neue Welt" [zum Prosaroman "Fortunatus", M.H.]; "Sommer 1805 / Goethe verfolgt hinter einem Vorhang verborgen Friedrich August Wolfs Vorlesung an der Universität Halle" [zu Voß' Homer Übersetzung, M.H.] oder "Oktober 1977 / Terroristen der Roten Armee Fraktion begehen im Gefängnis Selbstmord" [zu H. Müllers Hamletmaschine, M.H.].

Nach diesem Muster haben 152 Autoren jeweils ein literarisches Kunstwerk in seinen historischen, politischen und kulturgeschichtlichen Kontext gestellt und auf etwa acht Seiten das literarische Ereignis und seine Vorgeschichte wiedererzählt. Die Essays sind von Kennern geschrieben, die für 'ihren' Text und dessen Kontext zu begeistern wissen. Natürlich gibt es bei 200 Essays Qualitätsschwankungen, aber zumeist gelingt es den Autoren brillant, die literarischen Texte und mit ihnen die Geschichte zum Sprechen zu bringen. Für dieses Konzept, das die Geschichte der deutschen Literatur zugleich interdisziplinär verteilt - neben Germanisten sind auch Gräzisten, Romanisten, Historiker und Theologen beteiligt - ist der Band in den Feuilletons hinreichend gelobt worden. Es ist ein Buch, das seine Leser für die Literatur von den Merseburger Zaubersprüchen bis hin zu W.G. Sebald einzunehmen vermag - und es präsentiert die lange Zeit verstaubte Geschichte der Literatur als Lesevergnügen. Was wünscht man sich mehr? Doch ist dieser Steinbruch aus großartigen Geschichten rund um die Literatur auch eine Literaturgeschichte?

"Literaturgeschichten", so ist sich der Klappentext des Bandes sicher, "sind in Verruf geraten: Sie klassifizieren, normieren und kanonisieren". Deshalb habe die "Neue Geschichte der deutschen Literatur" einen anderen Ansatz gewählt, den Wellbery in seiner Einleitung erläutert. Mit Paul Celans Diktum, jedes Gedicht sei datierbar, formuliert Wellbery die Grundlagen seiner Literaturgeschichte. Sie geht davon aus, dass die Bedeutung literarischer Texte untrennbar an den einzelnen Moment gebunden ist, sowie an die Tatsache, dass Texte kontingente Ereignisse sind, die nicht miteinander im Zusammenhang stehen. Traditionelle Literaturgeschichten verfehlten diese Dimension, da sie die Texte als Ausdrucksform einer bestimmten Kraft, Tendenz oder Norm verstehen. Ein Hauptziel der "Neuen Geschichte" sei es hingegen, einen Präsentationsstil zu finden, der diese Dimension der kontingenten, zufälligen Begegnungen wieder sichtbar macht.

Das Modell, nach dem Wellberys "Neue Geschichte der deutschen Literatur" aus der kontingenten Menge der Textereignisse auswählt, heißt Zusammenstoß / Begegnung (engl. encounter) und rekurriert auf Walter Benjamins Geschichtsverständnis. Benjamin hat bekanntlich zwei prominente Bilder für seine Geschichtskonzeption geprägt, und beide bilden für Wellbery das Fundament seiner Literaturgeschichte: Der Tigersprung in die Vergangenheit und ihre Konstellation. Das Bild verdeutlicht: Es gibt keine zwingende Verbindung, keine direkte Linie zwischen den historischen Ereignissen und uns. Was mit diesem Modell als Literaturgeschichte entsteht, könnte random access history oder Literaturgeschichte im Zufallsgenerator genannt werden, hätten die Herausgeber dieser allzu offensichtlichen Kritik nicht selbst das Einfallstor verschlossen: Der Zufallsfaktor wird zunächst dadurch verringert, dass die "Neue Literaturgeschichte" selbstredend die Richtung des Zeitpfeils nicht ändert, sondern brav in der Chronologie verhaftet bleibt. Allerdings vermeidet Wellberys literaturgeschichtliche Konzeption, das Material über die Zeitschiene hinaus irgendwie zu ordnen. Es gibt keine Gattungen und keine Epochen, Institutionen, Bewusstsein für historische Leser oder verschiedene Modellierungen von Autorschaften. So erhält der Leser die Möglichkeit, beliebige Stränge zu entdecken, indem er selbst Konstellationen aus den per definitionem unzusammenhängenden, kontingenten Ereignissen erschafft. Mit diesem Bild greift Wellbery zum zweitenmal auf Benjamins Geschichtsphilosophie zurück: So wie die Sterne am Himmel Lichtjahre auseinanderstehen, für uns aber doch eine sinnfällige Konstellation ergeben, konstruieren wir aus den geschichtlichen Momenten, die uns betreffen, Konstellationen und machen die einzelnen Momente dadurch bedeutsam.

Ganz so frei springt der Tiger in dieser Geschichte der Literatur deshalb dann doch nicht, schließlich versucht die "Neue Geschichte der deutschen Literatur" dem Leser auch durch angebotene Sprungmarken in Form von Jahreszahlen am Ende der Essays mögliche (Bedeutungs-)Konstellationen anzubieten. Auch wenn das Gegenteil behauptet wird, hier wird ebenso ausgewählt, klassifiziert, normiert und auch kanonisiert wie in allen Literaturgeschichten. Nur wählen Wellbery und seine Mitherausgeber einen unscharfen Kompromiss zwischen traditionell historisch beschreibender Geschichte, die davon ausgeht, dass sich die nationale Literaturgeschichte als zusammenhängendes Kontinuum beschreiben lassen müsse und einer Auswahl von Texten, die vornehmlich durch die Maßgabe ihrer ästhetischen Geltung bestimmt wird. Ausgewählt werden fast nur hochkulturelle und hochkanonisierte Werke, deren Anordnung trotz der Chronologie der Charaktere von Bruchstücken eines verschütteten Sinns (Sternenbild) nachgesagt werden. Dahinter verbirgt sich ein emphatischer Literaturbegriff, wie er sich stärker kaum denken lässt und eine letztlich neoromantische Modellierung eines "bedeutsamen" Zusammenspiels von Kunst und Leben.

Der in der Einleitung programmatisch angekündigte weite Literaturbegriff erweist sich bei genauerer Betrachtung lediglich als Lizenz, den eigenen Kanon ganz ungehemmt von Gattungs- und Mediengrenzen zu verfolgen. Erst der Blick auf das Ausgeklammerte macht deutlich, dass Wellberys Literaturgeschichte nicht Heterogenes in Kopräsenz präsentiert, sondern bereits aus der großen kontingenten Menge der Texte eine klare Auswahl getroffen hat, die letztlich festlegt, was ein literarisches Werk ist. In dieser Literaturgeschichte fehlen deshalb gänzlich Lehrdichtung und Kasuallyrik, die Popularkultur insgesamt bleibt unberücksichtigt. Vulpius, Kotzebue, Iffland und Karl May werden nicht erwähnt, Hegel, Kant, Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger, Leni Riefenstahl und Edgar Reitz hingegen sind eigene Essays gewidmet.

Die Abfolge der prägnanten Augenblicke, hinter denen sich jeweils ein Essay zu einem Werk oder Werkzusammenhänge verbergen, enthüllen in ihrer Summe implizit Bezüge zwischen Literatur, gesellschaftlichen Institutionen, Politik, Handel und Moral; für diesen Ansatz kann Wellbery im besten Sinne bereits Herder als Zeugen anführen. Neben dieser ausgesprochenen Nähe zu Ansätzen des New Historicism geht das literarhistorische Projekt implizit davon aus, dass unterschiedliche Zeiten Zeitlichkeit und damit Geschichte unterschiedlich wahrnehmen und verbindet dies mit dem Konzept von Deutschland als einer verspäteten Nation. Andeutungsweise tritt hierzu noch ein teleologisches Modell, das den Medienwandel als kleinen Fortschritt darstellt. Ansonsten findet keine systematische Korrelierung mit Geschichte, sozialen, kulturellen oder geografischen Prozessen statt. Ganz im Sinne des Modells, den Leser mit unerwarteten Konstellationen zu überraschen, legen die Essays ihr Augenmerk eher auf Bezüge zwischen einzelnen Werken (so etwa die Hoffmann-Rezeption bei Freud, oder die Nachbarschaft von Brecht und Grimmelshausen) - und hier wird der aufmerksame Leser des Bandes zweifelsohne eine Vielzahl von Querverbindungen und Vernetzung entdecken können.

In der Perspektive dessen, der hin und her springt, verschwimmt auch, dass diese Literaturgeschichte über die Hierarchisierung der Daten eben doch ein ganz bestimmtes Bild der Literaturgeschichte bietet, das (den üblichen) Verzerrungen unterworfen ist. Die ersten 800 Jahre einer Geschichte der deutschen Literatur erhalten mit etwa 340 Seiten relational deutlich weniger Raum als die Jahre von 1570-1730 (circa 100 Seiten), ganz zu schweigen von den restlichen 270 Jahren bis 2000, die quantitativ mit gut 650 Seiten abgedeckt sind. Auch in der "Neuen Geschichte" sind "um 1800" und "um 1900" die kanonischen Epochen der deutschen Literaturgeschichte. Kaum verbergen lässt sich auch, dass die Moderne das implizite Telos dieser Literaturgeschichte ist.

Dass in dieser Literaturgeschichte die Komposita "Geschichte", "Deutsch" und "Literatur" etwas anderes bedeuten würden als in gewöhnlichen Werken dieser Gattung, davon kann nicht die Rede sein. Die etwas vollmundige Ankündigung, die "Neue Geschichte der deutschen Literatur" blicke anders als die traditionellen Literaturgeschichten über die Grenzen der deutschen Literatur auf den europäischen Kulturraum, belegt Wellbery in der Einleitung nun gerade nicht sehr überzeugend mit Madame de Staels "De L'Allmagne" und Thomas Manns "Doktor Faustus". Letzterer wird mit der Begründung angeführt, der "Doktor Faustus" sei in Kalifornien geschrieben worden, und die Titelblätter des "Time Magazine" hätten keinen geringen Einfluss auf das Werk gehabt.

Weniger das Konzept "deutsche Literatur", vielmehr "Interessantheit" (curiosity), die zunächst als Auswahlkriterium der Ereignisse dient, wird schließlich zum alles bestimmenden Begriff. "Curiosity" wandelt sich schließlich zur Funktion der Literatur, die dem Leser ein Netzwerk an Querbeziehungen eröffnet: Alles ist interessant und hängt miteinander zusammen.

Literaturgeschichten hatten bislang die Funktion, verfestigtes kanonisches Wissen innerhalb einer disziplinären Ausbildung weiterzugeben. So lernen wir Literaturgeschichte im Gymnasium und an der Hochschule kennen. In dieser Funktion sind Literaturgeschichten Teil der Wissenschaftsgeschichte. Gerade weil Literaturgeschichten als Textsorte nun einmal funktional bestimmt sind, lautet die zentrale Frage also: Für wen ist die "Neue Geschichte der deutschen Literatur", deren erklärtes Ziel es ist, die Präsenz von Literatur erfahrbar zu machen, geschrieben? Die amerikanische Originalausgabe hatte ein klar umrissenes Zielpublikum: die freshmen an den liberal arts colleges, die an deutsche Literatur erst einmal herangeführt werden müssen. Wer aber ist das Zielpublikum in deutscher Sprache? Studenten der Germanistik? Wer als Student Grundinformationen zur Geschichte der deutschen Literatur (etwa zur Prüfungsvorbereitung) sucht, wird an der methodisch nicht klar fokussierten Informationsflut scheitern. Also doch eher Literaturkenner und Liebhaber in und außerhalb der Disziplin auf der Suche nach gehobener Anregung? "Wir haben die Vision von Lesern mit ganz unterschiedlichen Interessen, die aus welchem Grund auch immer neugierig sind auf deutsche Literatur und Kultur", heißt es hierzu in Wellberys sperrig übersetzter Einleitung.

Ob diese indifferente Zielsetzung einer Literaturgeschichte langfristig dem Fach einen Dienst erweist, sei dahingestellt. Die deutsche Ausgabe hat den Trend zur Popularisierung jedenfalls erkannt und allen akademischen Anstrich so weit wie möglich getilgt. Dies beginnt mit der Entfernung der 12 Abbildungen (vom Merseburger Zauberspruch bis hin zu Daniel Libeskinds Plan für das Jüdische Museum in Berlin) und der vier geopolitischen Karten (der deutsche Sprachraum 1150, 1648, 1871 und 2000), und setzt sich fort in den getilgten Autornamen im Inhaltsverzeichnis. Während die amerikanische Ausgabe auf die Strahlkraft der akademischen Lehrer als Verfasser der Essays setzte, reiht die deutsche Ausgabe Daten und Überschriften ohne Angaben der Autoren aneinander. Auf dem Schutzumschlag gibt der lesende Gartenzwerg dafür das passende Bild: als Kitschobjekt und PopArt-Werbefläche zugleich repräsentiert der lesende Gartenzwerg die deutsche Literatur. Vielleicht ist dies ein klug gewähltes Gegengift zur hohen Emphase im Inneren des Bandes.


Titelbild

David E. Wellbery / Judith Ryan / Hans Ulrich Gumbrecht / Anton Kaes / Joseph Leo Koerner / Dorothea E. von Mücke (Hg.): Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Volker von Aue, Christian Döring, John von Düffel, Peter von Düffel, Helmut Ettinger, Gerhard Falkner, Herbert Genzmer, Nora Matocza und Peter Torberg.
Berlin University Press, Berlin 2007.
1219 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783940432124

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