Müssen wir unser Bild von Gotthold Ephraim Lessing korrigieren?

Zehn Wissenschaftler äußern sich über den Verfasser von "Nathan der Weise"

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band verspricht einen fundierten Einblick in die Lessing-Forschung mit ausgewählten Beiträgen, die sich allesamt als "wegweisend erwiesen" hätten. "Sie informieren", so heißt es weiter im Werbetext der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, "sachkundig über den Klassiker Lessing und behalten dabei stets den weiteren Horizont der Aufklärung im Blick."

Die Auswahl berücksichtigt, verspricht Markus Fauser in seiner Einleitung, "die Benutzbarkeit für breitere Leserkreise." Diese Behauptung muss jedoch mit Fug und Recht bezweifelt werden. Leser, die mit Lessings Namen vor allem sein Schauspiel "Nathan der Weise" verbinden und vielleicht noch den Namen Moses Mendelssohn - für Lessing der gute Jude schlechthin - dürften mit Überschriften wie "Moral als Disposition und Dramaturgie des doppelten Modus tollens", "Die anthropologische Neubegründung der eloquentia corporis" und den oft recht sperrigen Ausführungen in diesem Band wenig anzufangen wissen und das Buch vielleicht ganz schnell wieder beiseite legen.

Doch worum geht es hier? Zehn Autoren stellen die wichtigsten methodischen Neuerungen der letzten zwei Jahrzehnte vor, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf den 1990er-Jahren liegt. Drei Ansätze der neueren Forschung, die mit den Stichworten "Religionskultur", "Legitimation der Moderne" und "Eigenperspektive der Epoche" umschrieben werden können, stechen besonders ins Auge. Auffällig ist zudem, dass gegenwärtig die Detailforschung dominiert.

Die Abkehr von sozialgeschichtlichen Methoden in den 1980er-Jahren und die damit verbundene Abwendung von gesellschaftlichen Erklärungsmustern in der Literatur wirkten sich nachhaltig auch auf die Lessing-Forschung aus. Mancher scheinbar (scheinbar im wahrsten Sinne des Wortes) zu Ende interpretierter Konflikt erscheint plötzlich in einem ganz neuen Licht.

In manchen Beiträgen nehmen die Deutungen der Dramen breiten Raum ein. Günter Saße befasst sich mit der Komödie "Minna von Barnhelm", mit der Lessing im Hinblick auf die zum Schluss stattfindende Doppelhochzeit ein Thema aufgegriffen habe, "das für die Komödie fast schon gattungskonstitutiv ist."

Monika Fick spürt "verworrene Perzeptionen" in "Emilia Galotti" auf, einer Tragödie, an deren Ende zwar "die heroische Vernichtung der sinnlichen Existenz" steht, die aber darüber hinaus Mitleid im Zuschauer auslösen will.

Für Wilfried Barner - sein Thema ist "Lessing und die griechische Tragödie" - gelang Lessing mit "Miß Sara Sampson" (1755) das moderne Trauerspiel, das dem "Menschlichen" und "Zärtlichen" zum überwältigenden Tränendurchbruch verhalf und das Muster für ein originales deutsches, bürgerliches Trauerspiel abgab.

Lange ordnete man Lessing "zwischen Bürgerlichkeit und Gelehrtheit" ein. Heute betont man das Unbürgerliche seines Lebenswandels und sieht in ihm eher einen Außenseiter, der "sein Geld wohl überwiegend verspielt" und sich selbst oft im Wege gestanden habe. Das wiederum provoziert das Bild vom Aufklärer als Opfer seiner eigenen Leidenschaften. Da nur wenig von seinem Leben bekannt ist und Lessing sich selbst über seine persönlichen Gefühle, Hoffnungen und Ziele nur zurückhaltend äußerte, stellt seine innere Biografie den Forscher vor besondere Probleme. Diesen widmet sich Hugh Barr Nisbert, von dem uns der Beck-Verlag "eine umfassende Lessing-Biographie auf dem neuesten Forschungsstand" für den Herbst in Aussicht stellt.

Oscar Wilde bemerkte einmal: "Jeder große Mann hat heutzutage seine Jünger, und seine Biographie wird immer von Judas geschrieben." Dieser Judas sei bei Lessing offenbar, meint Barr Nisbert, der eigene Bruder Karl Gotthelf Lessing gewesen, dessen Lessing-Biografie nach wie vor die wichtigste Quelle über dessen Privatleben sei. Im Wesentlichen sei sie wohl apologetisch - nicht nur wegen der Religionsstreitigkeiten, die sein Bruder ausgelöst hat -, doch liefere sie ein nüchternes positivistisches Porträt von Gotthold Ephraim Lessing mit allen Fehlern und Schwächen.

Lessing hat auf seine Zeitgenossen und späteren Leser stets den Eindruck einer starken, mutigen und selbstbewussten Persönlichkeit gemacht. Erst in letzter Zeit schenkte man den negativen Aspekten seines Leben mehr Beachtung. Immerhin hat er in den sechziger Jahren eine Reihe von Enttäuschungen erlebt. Kein Wunder, dass expressive und zynische Gemütszustände viele seiner Briefe und Gespräche aus den Wolfenbütteler Jahren kennzeichnen.

Andere Aufsätze dürften ebenfalls manchen Leser veranlassen, das eigene Bild von Lessing zu korrigieren, zum Beispiel durch den Beitrag Volker Leppins, in dem er mit Nachdruck betont, dass Lessings Argumentationsweise nicht die eines systembildenden Dogmatikers gewesen sei. Vielmehr habe er immer wieder aufs neue verschiedene Gedanken aufgenommen und angedacht.

Starkes Interesse herrscht ebenfalls an den theologischen Dimensionen des Lessing`schen Werkes. Nach wie vor umstritten ist allerdings die Frage nach seiner Toleranz. Nicht alle Religionen waren ihm gleichwertig. Deutlich gab er den Offenbarungsreligionen wie Judentum, Christentum und Islam den Vorzug. Dass sich Lessing nicht selten überaus intolerant gegen die Kirchen und Lehrmeinungen verhielt, das sei kein Kennzeichen einer prinzipiellen Unkirchlichkeit und Religionsdistanz, so Markus Fauser, sondern gehe auf "innertheologische Differenzierungsprozesse" zurück, an denen Lessing mit aller Streitlust teilgenommen habe.

Natürlich nimmt in diesem Band der "Nathan" breiten Raum ein. Ingrid Strohschneider-Kors fühlt sich durch Nathans Bericht über das Geschehen im Pogrom von Gath an die Geschichte und Figuren des biblischen Hiob erinnert. Volker Leppin wiederum weist darauf hin, dass "kein Schauspielführer, der etwas auf sich hält", auf den Hinweis verzichtet, "Gotthold Ephraim Lessing habe mit 'Nathan dem Weisen' die Bühne zur Kanzel gemacht."

Alle Beiträge wurden schon anderweitig veröffentlicht oder als Vorträge gehalten und setzen intensive Vertrautheit mit Lessing und seinem Werk voraus. Die Studie, in der ausgiebig auf bisherige Forschungsergebnisse eingegangen wird und die neben einer reichen Auswahlbibliografie ein Personregister enthält, sei daher in erster Linie Wissenschaftlern empfohlen.


Titelbild

Markus Fauser (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Reihe: Neue Wege der Forschung.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2008.
237 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783534198832

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch