Weit entfernt vom Kontinent des Menschen

Ein Band versammelt Berliner Mosse-Lectures zu Franz Kafka

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die zu Ehren des deutsch-jüdischen Emigranten George L. Mosse, einem renommierten Erforscher völkischer und rassistischer Stereotype, an der Berliner Humboldt-Universität abgehaltenen Vorlesungen sind dem Erbe der im nationalsozialistischen Deutschland verfolgten Juden, besonders auch dem Andenken der mit dem "Berliner Tagblatt" eng verflochtenen liberalen Verlegerfamilie Mosse gewidmet. Zehn im Jahr 2005 gehaltene Vorlesungen widmeten sich dem Werk Franz Kafkas, ergänzt sind die Texte durch Illustrationen des türkischen Künstlers Ergin Inan.

Der diese zehn Beiträge bündelnde Buchtitel "Kontinent Kafka" leitet sich von Walter Benjamin her. Dieser hatte seine Beobachtung, in Kafkas Texten sei man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt, an den Tiergeschichten, an den tierischen Helden Kafkas festgemacht. Es wäre allerdings ein Missverständnis, läse man Benjamin so, dass die conditio humana bei Kafka kein Thema mehr sei. Fährt er doch, mit Blick auf Texte wie "Bericht für eine Akademie", "Forschungen eines Hundes" oder "Der Bau" fort: "Doch Kafka ist das immer; der Gebärde des Menschen nimmt er die überkommenen Stützen und hat an ihr dann einen Gegenstand zu Überlegungen, die kein Ende nehmen."

So geht es in den Mosse-Vorlesungen um Kafkas spezifische Verfremdungstechniken, deren Ausgangs- und Endpunkt nicht mehr die Idee vom Menschen ist, sondern seine leibliche Beschaffenheit. In Frage stehen alle Arten von Materialität - die der Körper und die der Schrift. Die Verfasser, alle ausgewiesene Kafka-Kenner, buchstabieren diese Materialitäten aus je unterschiedlicher Perspektive aus. Dem schmalen, zugleich bibliophil gestalteten wie kostengünstigen Band gelingt es dabei, wichtige Impulse der Kafka-Forschung der vergangenen Jahrzehnte zu bilanzieren.

Der Band steht also im Zeichen des Signifikanten. Um das Gegenständliche, Materiale und Praktikable an Kafkas Prosa geht es, an der endgültige Bedeutungen aber stets abgleiten. Das Buch stellt in zehn Anläufen immer wieder die Frage: "Wie konnte die Schreibarbeit des Prager Juristen und Unfallversicherungsangestellten aus jüdischer Familie zum Kontinent des 'Kafkaeseken' werden, zur Zeichenfläche der modernen westlichen Welt schlechthin?"

Mit dem Emigranten Walter H. Sokel ist hier auch noch einer der Gründungsväter der Kafka-Forschung vertreten. Sein autobiografisches Bekenntnis leuchtet die Emphase der Freiheit aus, die eine Kafka-Lektüre in der Mitte des 20. Jahrhunderts auslösen konnte. Die Verunsicherungen des Lesers angesichts einer genuin modernen, antimimetischen Schreibweise mündeten in immer neue Lektüreversuche, die sich zunächst und vor allem dem Buchstaben des Texts und nicht seinem 'Geist' widmen mussten. Professionelle Kafka-Leser wie die in dem Sammelband vertretenen wurden so gleichsam zwangsläufig zu literaturwissenschaftlichen Avantgardisten - vor allem die jüngeren, nachgeborenen und damit nicht mehr ganz so originellen unter ihnen erkennt man am souveränen Sound des Medienanalytikers, der sich aus der Beschäftigung mit Apparaten wie dem Parlograph, dem Telefon, der Hollerith-Maschine und dem Schreibwerkzeug aus Kafkas Texten speist.

Nicht immer ist das Materiale der Letzthorizont der Beiträge: Wenn Detlef Kremer die Topografie in Kafkas Texten allegorisiert, entmaterialisiert er sie wiederum, wenngleich nicht in traditionellen Kategorien. Denn nicht etwa Ober- und Unterwelt, sondern verräumlichte Schwellenphänomene macht er in dessen Texten aus. Gerhard Neumann ("Kafka als Ethnologe") indessen bezeichnet Kafkas Grenzsituationen wiederum zwischen Sprache und Körperpraktiken, bei denen ausgerechnet etwas sehr Körperliches, der Schmerz, das Bleibende ist.

Immer wichtiger für die Kafka-Forschung sind die beruflichen Voraussetzungen des Versicherungsjuristen geworden, hat man doch die Diszplinierung der Arbeiterleiber, geradezu deren Regulierung im statistischen Kollektivkörper, den das Sozialversicherungswesen erschafft, in den literarischen Texten wieder entdeckt. Nicht nur vermag Joseph Vogl etwas so vordergründig Immaterielles wie Kafkas Komik mit dem "Aufstand des Leiblichen" in Verbindung zu bringen; auch Klaus R. Scherpes Poetik der Kafka'schen Beschreibung zeigt, wie Kafka "die Dinge" im Auge behält und mit seinen Beschreibungen, in Abhängigkeit von optischen Medien, sinnliche Evidenz erzeugt.

Wenngleich diese Zuordnungen manchmal ein wenig bemüht und gar gewaltsam anmuten, Kafka vielleicht zu einseitig vom Erbe des 19. Jahrhunderts abzunabeln versuchen, machen diese Materialitäts-Lektüren doch die ungebrochene Attraktivität des Autors im 21. Jahrhundert erklärlich. Die zehn Essays, die ihn aus je eigenem Blickwinkel augenblickshaft, nicht aber endgültig zu fassen versuchen, sind so distanziert nicht. Sie kommen vielmehr selbst von jenem kalten, fast menschenleeren Kontinent Kafkas her und teilen den kühlen Blick auf den menschlichen Schmerz, den Neumann in dessen Text "In der Strafkolonie" ortet.

Ergin Inans Radierungen, "Inschriften für Kafka", zeichnen den Band in besonderer Weise aus, denn sie veranschaulichen Möglichkeiten und Grenzen der Lesbarkeit von Hieroglyphen, zu denen für Kafka Schriftzeichen längst geworden sind. Inan vereinigt in seinen Bildkompositionen Zitate aus Kafkas Texten mit vielleicht ebenso wenig lesbaren, vielleicht aber auch sogar fast verständlichen anderen Hieroglyphen: Zeichnungen von Insektenleibern (denen, wie schon der Leser von Edgar Allan Poes "Gold Bug" weiß, manchmal ein eigentümlicher Text eingeschrieben ist), Reptilien, Würmern, Menschenaugen und -gesichtern - schließlich kommen auch arabische Schriftzeichen ins Spiel. Inan verweist aber auf Kafkas Handschriften, die man mittlerweile aus zahlreichen Faksimile-Ausgaben kennt und deren Kalligrafien und 'Kritzeleien' die Nähe von Bild und Schrift vorwegnehmen sowie die Problematik der Materialität von Schriftzeichen plausibilisieren. Auch sie erinnern an die unverfügbare, oft hässliche und ekelbetonte Körperlichkeit, die Kafkas Welt, pardon: Kafkas Kontinent, dominiert.


Titelbild

Klaus R. Scherpe / Elisabeth Wagner (Hg.): Kontinent Kafka. Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2006.
158 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3930916797

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