Grenzgänger Walter Müller-Seidel

Ein Literaturwissenschaftler großen Formats wird 90 Jahre alt

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

"Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch." Walter Müller-Seidel wählte diesen Satz Martin Bubers 1965 zum Motto seiner resonanzreichen und wegweisenden Schrift über "Probleme der literarischen Wertung", die ein bis dahin meist als unwissenschaftlich abgetanes Thema nachdrücklich zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Reflexionen machte. Das gegen dogmatische Erstarrung, fertiges Handbuchwissen und Systemzwang gerichtete Motto entspricht einem dialogischen Wissenschaftsethos, mit dem der Münchener Ordinarius für Neuere deutsche Literatur auch als Lehrer und als engagierter Förderer des wissenschaftlichen Nachwuchses eine enorme Wirkung hatte. Über hundert Schülerinnen und Schüler promovierten bei ihm. Und mehr als fünfundzwanzig Professorinnen und Professoren hat er bei ihrer Habilitation gefordert und gefördert.

Dass er sich gerne zwischen den Fronten heftig konkurrierender Theorien und Methoden bewegte, prädestinierte ihn in den turbulenten Jahren der Geschichte seines Faches zum Vorsitzenden der deutschen Hochschulgermanisten, deren Stuttgarter Tagung er 1972 mit integrativer Kompetenz zu leiten verstand. "Die Erforschung der deutschen Literatur und ihre Leser" lautet der Titel eines für ihn typischen Aufsatzes in dem von ihm über vierzig Jahre lang mit herausgegebenen "Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft". Er ist ein Plädoyer für den Dialog im mehrfachen Sinn: für Verständigung innerhalb eines Faches, dessen Vertreter aufgrund zunehmender Spezialisierung und der ständig wachsenden Zahl von Publikationen einander kaum noch zur Kenntnis nehmen, für das Gespräch zwischen den Fächern in einer zersplitterten Universität und schließlich für eine Sprache, die nicht nur Fachwissenschaftlern verständlich ist.

Die Bereitschaft zum Gespräch, so heißt es in dem Wertungsbuch, sei die Grundlage jener Art von Humanität, deren Natur laut Hegel auf die Übereinkunft mit anderen dringt. Was die Humanitätsphilosophie und Literatur der Goethezeit dem international hoch angesehenen Goethe-, Schiller-, Kleist- und Hölderlin-Forscher bedeuten, zeigt am besten seine 1983 erschienene Aufsatzsammlung "Zur Geschichtlichkeit der deutschen Klassik". Das Vorwort deutet an, wie der am 1. Juli 1918 in Schöna (Sachsen) geborene Germanist zu Beginn seines Studiums im Wintersemester 1937/38 in Leipzig mit einer zeitlos dargestellten Welt der Goethezeit konfrontiert wurde: "Die damals ungeliebte Gegenwart trug nicht wenig dazu bei, daß man in einer vergangenen Kultur wie dieser eine Art geistiger Heimat suchte - und auch fand." Der jedem Dichterkult abgeneigte Literarhistoriker lernte bald, diese Kultur als geschichtliches Phänomen zu begreifen, das "im Prozeß lebendiger Aneignung jeweils zu vergegenwärtigen" sei.

In Heidelberg promovierte der Assistent Paul Böckmanns vier Jahre nach Kriegsende über Schillers Jugenddramen. Seine Habilitationsschrift über Heinrich von Kleist, die 1961 unter dem Titel "Versehen und Erkennen" erschien, wurde zum mehrfach aufgelegten Standardwerk. Als Mitherausgeber der Schiller-Nationalausgabe und der Werke E. T. A. Hoffmanns, als Autor vielbeachteter Aufsätze hat Müller-Seidel seine Interessen an der Goethezeit weiter verfolgt. Sie galten gerade auch ihren gegenklassischen, auf das 20. Jahrhundert vorausweisenden Tendenzen. Seit seiner Berufung von Köln nach München im Jahre 1960 wurden diese Interessen zunehmend durch Arbeiten zur literarischen Moderne überlagert. Die Methodendiskussionen nach 1968 veränderten dabei seine Perspektiven. Die Kontexte wurden ihm fast so wichtig wie die literarischen Texte selbst. Müller-Seidel entwickelte sich zum Grenzgänger zwischen den Gebieten der Literatur-, Wissenschafts-, Rechts- und Medizingeschichte. Schon in dem umfangreichen Buch von 1975 über Fontane und die soziale Romankunst in Deutschland, einer Summe jahrzehntelanger Forschungen, weiteten sich die subtilen Werkanalysen zur Darstellung sozialer Denkformen im ganzen neunzehnten Jahrhundert aus. Wie sich hochrangigen Werken der Weltliteratur im Blick auf außerliterarische Zusammenhänge neue, faszinierende Aspekte abgewinnen lassen, demonstrierte er 1986 erneut mit seiner Monographie über Kafkas "Strafkolonie" im Kontext jener Strafrechtsdebatten, die den nationalsozialistischen Deportationspraktiken vorangingen.

Danach hat Müller-Seidel kein größeres Buch mehr veröffentlicht, aber, unter erschwerten Bedingungen, kontinuierlich an mindestens drei großen Projekten weitergearbeitet und in ihrem Umkreis zahlreiche kleinere Schriften publiziert. Zwei dieser Projekte wurden bereits mit Buchtiteln angekündigt, die beide auf einen dominanten Impuls seiner Forschungen verweisen: die Leistungen der Literatur wie der Wissenschaft an den ethischen Kriterien der Humanität zu messen. Der eine Titel lautet: "Zur Geschichte humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter. Literatur und Medizin in Deutschland - von der Klassik zur Moderne (1795-1945)". Die jahrelange Arbeit an dem Buch hat er durch die an einem anderen unterbrochen, mit dem er, nicht zum ersten Mal, zu seinen literaturwissenschaftlichen Anfängen zurückkehrt. Der Verlag C.H. Beck hat das Erscheinen für dieses Jahr angekündigt: ",Nicht das Große, das Menschliche geschehe'. Friedrich Schiller und die Politik".

Unter jüngeren Literaturwissenschaftlern kursiert gegenwärtig die Rede von einem "ethical turn". Walter Müller-Seidel hat die ethische Verantwortlichkeit der Wissenschaften als Forscher und Lehrer schon immer konsequent vertreten. Am 1. Juli 2008 feiert er seinen 90. Geburtstag. Wir wünschen ihm und uns, dass beide Bücher bald vorliegen. Und dass seine früheren endlich neu aufgelegt werden. Denn wie er selbst scheint das, was er geschrieben hat, kaum zu altern. Es ist ein bleibender Gewinn, mit ihm ein Gespräch zu führen - nicht zuletzt über die Geschichte seines Faches, an der er mit einem unglaublich guten Gedächtnis sowie mit einem intellektuellen Format Anteil hat und Anteil nimmt wie wenige andere seiner Generation. Auch dazu hoffen wir bald noch mehr von ihm zu lesen.

Walter-Müller Seidel in literaturkritik.de:

Das Interesse an Schiller. Nachwort zu einer Biographie von Marie Haller-Nevermann / Von Walter Müller-Seidel
Ausgabe 01-2005

Literarische Moderne und Erster Weltkrieg. Arthur Schnitzler in dieser Zeit / Von Walter Müller-Seidel
Ausgabe 09-2004

Schweigen aus Scham. Ein Gespräch über das Internationale Germanistenlexikon mit Walter Müller-Seidel / Von Thomas Anz
Ausgabe 03-2004

Walter Müller-Seidels Schrift über Döblins Lehrer Alfred Erich Hoche
Ausgabe 06-2000

Monografien von Walter Müller-Seidel:

Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist. Köln, Graz 1961 (3. Aufl. 1971).

Probleme der literarischen Wertung. Über die Wissenschaftlichkeit eines unwissenschaftlichen Themas. Stuttgart 1965 (2., durchges. Aufl. 1969).

Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1975 (3. Aufl. 1994).

Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik. Literatur und Denkformen um 1800. Stuttgart 1983.

Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung "In der Strafkolonie" im europäischen Kontext. Stuttgart 1986 (Taschenbuchausg. Frankfurt/Main 1989)

Justizkritik und moderne Literatur. Stuttgart u.a. 1989.

Arztbilder im Wandel. Zum literarischen Werk Arthur Schnitzlers. München 1997.

Alfred Erich Hoche. Lebensgeschichte im Spannungsfeld zwischen Psychiatrie, Strafrecht und Literatur. München 1999.

Angekündigt:

Zur Geschichte humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter. Literatur und Medizin in Deutschland - von der Klassik zur Moderne (1795-1945).

,Nicht das Große, das Menschliche geschehe'.Friedrich Schiller und die Politik. München 2008.