"Den visionären Blick habe ich nur bei Blitzlicht"

Kafka und die Fotografie

Von Carolin DuttlingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolin Duttlinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Kafka-Biografie beschreibt Max Brod eine literarische Urszene: In seiner Jugend habe Kafka zu den Geburtstagen der Eltern gelegentlich kleine Theaterstücke verfasst, die im häuslichen Kreis aufgeführt wurden. Einer dieser Texte habe den Titel "Photographien reden" getragen und sich auf "die auf dem Trumeau stehenden Familienphotos" bezogen. Kafka kehrte zwar als erwachsener Autor dem Drama bis auf eine Ausnahme den Rücken zu. Die Fotografie aber diente ihm zeitlebens als wichtige Inspirationsquelle. Als literarisches Motiv erscheint sie wiederholt in den Romanen und Erzählungen und wird vor allem in den Briefen und Tagebüchern zum Gegenstand der Analyse, Reflexion und Kritik. Selbst dort, wo das Medium nicht explizit thematisiert wird, liegen den Werken immer wieder fotografische Bilder als Quellen- und Intertext zugrunde. So zieht sich die Fotografie als subtiles Leitmotiv durch Kafkas Schriften, von seinen ersten literarischen Versuchen bis zu seinem Todesjahr, und veranschaulicht in dieser Hinsicht sowohl die Umbrüche seines Werks als auch die ihm zugrundeliegenden Kontinuitäten.

Kafkas Faszination für das Medium Fotografie ist in vieler Hinsicht seiner von Hanns Zischler ausführlich erläuterten Kinobegeisterung verwandt, und ist von ihr aber auch in gewichtigen Aspekten grundlegend verschieden. Der augenscheinlichste Unterschied betrifft die rein quantitative Prominenz beider Medien in Kafkas Schriften: während der Film explizit nur in den - vor allem früheren - Briefen und Tagebüchern thematisiert wird, überbrückt die Fotografie die Grenze zwischen persönlichen und literarischen Texten: Sie kommt neben den autobiografischen Schriften auch in den Romanen, Erzählungen und Fragmenten immer wieder zur Sprache. Dabei befruchten sich persönliche und fiktionale Texte gegenseitig. Die in Briefen und Tagebüchern diskutierten Fotos fungieren immer wieder als literarische Inspirationsquelle, sind aber auch selbst Gegenstand einer imaginativen Anverwandlung und Adaption.

Die stark unterschiedliche Präsenz von Film und Fotografie in Kafkas Texten lässt sich auf deren Repräsentationstechnik zurückführen. Beide Medien teilen zwar die technische (Re-)Produktionsweise ihrer Bilder. Die Fotografie aber gibt die Wirklichkeit nicht in ihrer zeitlichen Kontinuität wieder, sondern verleiht dem Dargestellten einen erstarrten, geradezu mortifizierten Charakter. "Jede Fotografie ist eine Art memento mori", schreibt Susan Sontag. Für den Autor Kafka ist es gerade diese Stasis, welche die Fotografie dem Film überlegen macht. Er notiert in seinem Tagebuch: "Die [fotografischen] Bilder lebendiger als im Kinematographen, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen. Der Kinematograph gibt dem Angeschauten die Unruhe ihrer Bewegung, die Ruhe des Blickes scheint wichtiger." Während der Kinobesucher den bewegten Bildern weitgehend passiv ausgesetzt ist - Kafka fühlt sich nach einer solchen Vorführung "ganz leer und sinnlos" - ermöglicht die Fotografie eine kontemplative, dabei aber auch imaginativ animierende Form der Betrachtung, die literarisch fruchtbar gemacht werden kann. In einem Zeitalter, in dem die technischen Medien die Relevanz der Literatur zunehmend in Frage stellen, erlaubt die Fotografie die Übersetzung und kreative Anverwandlung des Bildes in den Text. Bei aller Filmbegeisterung erweist sich die Fotografie für Kafka also letztlich als das literarisch produktivere Medium - auch und gerade dann, wenn dieses sich seiner textuellen Erschließung zuweilen widersetzt.

'Bildverkehr': Nähe und Distanz

Kafkas Beschäftigung mit der Fotografie vollzieht sich hauptsächlich im Medium der Literatur, hat aber durchaus auch eine praktische Seite. Als Hobby-Fotograf und fotografisches Modell, vornehmlich aber als unermüdlicher Sammler und Kommentator fotografischer Bilder kommt Kafka tagtäglich mit dem Medium in Berührung. Er besaß, soweit wir wissen, keine eigene Kamera, und fotografierte daher vor allem auf Reisen mit den Fotoapparaten von Freunden und Verwandten. Diesen fotografischen Versuchen war allerdings nur mäßiger Erfolg beschert. Im Gegensatz zu seinem Freund Max Brod, der weniger erfahrene Amateure in der Kunst der fotografischen Perspektive instruiert, zeigt Kafka als Fotograf wenig technisches Geschick, versucht aber gelegentlich, seine fotografischen Misserfolge in eine Erfolgsstrategie umzumünzen. So benutzt er auf einer 1912 zusammen mit Brod unternommenen Reise nach Weimar die misslungenen Fotos des Goethehauses als Vorwand, um weitere Bilder aufzunehmen - und damit mehr Zeit mit Margarethe Kirchner, der Tochter des Hausmeisterss zu verbringen. Diese im Tagebuch festgehaltene Episode veranschaulicht einen Mechanismus, der in Kafkas Texten immer wieder zum Tragen kommt: die Fotografie als Instrument der (erotischen) Annäherung.

Tatsächlich entpuppt sich Kafka in seinen Briefen als regelrechter Fotomane, der vor allem weibliche Korrespondentinnen wiederholt und insistierend bittet, ihm neue "Bildchen" zu zuschicken. Dieses Muster zieht sich durch die Briefwechsel mit Grete Bloch, Milena Jesenká und Minze Eisner, erreicht aber in der fünf Jahre umfassenden Korrespondenz mit seiner zweimaligen Verlobten Felice Bauer seinen Höhepunkt. Kafkas Briefe an Felice verdeutlichen sowohl die persönliche Faszination wie das immense literarische Potential der Fotografie, und zudem die Probleme und Ambivalenzen, die Kafkas Beschäftigung mit dem Medium mit eingeschriebenen waren.

Bereits seine erste Begegnung mit der Berliner Prokuristin im August 1912 steht unter dem Stern der Fotografie. Eben erst aus Weimar zurückgekehrt, verwendet Kafka die dort aufgenommenen Fotos als Gesprächsstoff und Anknüpfungspunkt. Wie er Felice rückblickend schreibt: "Sie nahmen das Anschauen der Bilder sehr ernst und sahen nur auf, wenn Otto [Brod] eine Erklärung gab oder ich ein neues Bild reichte." Dieser erste Abend in Prag ist in vieler Hinsicht richtungsweisend, nicht zuletzt deshalb, weil er die zentrale Bedeutung der Fotografie in der darauf folgenden, fünf Jahre dauernden Fernbeziehung antizipiert. Zwar entfaltet sich diese Beziehung vorwiegend im Medium der Schrift - der Briefe, die Felice und vor allem Kafka zum Teil mehrmals täglich hin und her schicken -, diese textbasierte Annäherung wird jedoch gerade in der Anfangszeit durch Fotos ergänzt und entscheidend geformt.

Um die zwanzig Fotos tauschen Kafka und Felice allein in den ersten sechs Monaten aus, neben Studioporträts auch Schnappschüsse, Familienbilder und Urlaubsfotos, und auch in den darauf folgenden Jahren reißt dieser 'Bildverkehr' niemals ganz ab. Die Fotografie fungiert als Ersatz für Intimität und Nähe. Sie soll ein Gefühl der Vertrautheit erzeugen, und hat doch oft den entgegengesetzten Effekt. Denn tatsächlich verdeutlichen Felices von Kafka mit Nachdruck verlangten und geradezu obsessiv kommentierten Bilder vor allem die räumliche Abwesenheit und emotionale Unfassbarkeit der Geliebten.

So werden Felices Fotos zunehmend zur Projektionsfläche für Kafkas sich schon bald herauskristallisierende Unsicherheit. Im Hinblick auf eines ihrer Bilder klagt er: "Dein Blick will mich nicht treffen, immer geht er über mich hinweg, ich drehe das Bild nach allen Seiten, immer aber findest Du eine Möglichkeit wegzusehn und ruhig und wie mit durchdachter Absicht wegzusehn". An anderer Stelle notiert er: "daß dieses Bildchen so unerschöpflich ist, das ist freilich ebensoviel Freude wie Leid. Es vergeht nicht, es löst sich nicht auf wie Lebendiges, dafür aber bleibt es wieder für immer erhalten und ein dauerhafter Trost, es will mich nicht durchdringen, aber es verläßt mich nicht." Die zweidimensionale Fotografie lässt eine Annäherung nur bedingt zu. Ihre glatte Oberfläche agiert als Barriere, welche den Betrachter von abgebildeten Person und der sie umgebenden Wirklichkeit distanziert.

Kafka versucht in seinen Briefen wiederholt, diese Barriere zu durchbrechen und mit der Referentin eine (imaginäre) Beziehung herzustellen, scheitert aber nicht nur an der Materialität des Bildes, sondern vor allem an seinen eigenen Annäherungsstrategien. Denn Kafkas Fotografiediskurs liegt in den Briefen wie auch in anderen Texten eine paradoxale Struktur zugrunde. In ausführlichen, mit der Detailgenauigkeit des fotografischen Blickes wetteifernden Passagen beschreibt Kafka Felices Bilder. Die werden durch die Kommentare jedoch nicht lesbar, sondern im Gegenteil nur noch rätselhafter und undurchsichtiger. Kafka beschreibt die ihm zugesandten Fotos wiederholt als 'Rätsel' oder 'Geheimnis', und Felices Bilder werden zum Gegenstand detektivischer Mini-Erzählungen, denen die Auflösung allerdings versagt bleibt. So kommentiert Kafka in Bezug auf ein Gruppenfoto der Familie Bauer: "Das Ganze sieht übrigens in der Beleuchtung, Gruppierung und Laune der Abgebildeten ganz geheimnisvoll aus und der Schlüssel des Geheimnisses, der vorne auf dem Tisch neben der zu ihm gehörigen Schachtel liegt, macht die Sache um nichts klarer. Du lächelst wehmütig, oder es ist meine Laune, die Dir dieses Lächeln andichtet."

Wie das Bild des nutzlosen, das fotografische Geheimnis nicht erschließenden Schlüssels verdeutlicht, betonen Kafkas Briefe nachhaltig die Ambivalenz der in Frage stehenden Bilder, welche sie durch endlose Fragen und Hypothesen nur weiter verstärken. Trotz seines scharfen Blickes erweist sich Kafka nicht als selbstbewusster, sondern als zutiefst verunsicherter Betrachter. Immer wieder bleibt er an einzelnen Details hängen und verfolgt damit eine Interpretationsstrategie, die Roland Barthes später mit dem Begriff des punctum charakterisieren wird. In "Die helle Kammer" argumentiert Barthes, dass die Faszination, die bestimmte Fotos auf uns ausüben, oftmals nicht auf deren 'objektiver', kultureller oder historischer Bedeutung beruht, sondern vielmehr durch scheinbar zufällige, nebensächliche Details ausgelöst wird. Unsere Begegnung mit der Fotografie ist ein radikal subjektives Ereignis, wie denn auch unsere Reaktion auf bestimmte Bilder nicht verallgemeinert werden kann.

Während jedoch das punctum Barthes' Beschäftigung mit bestimmten Bildern einen klaren Fokus verleiht, verliert sich Kafkas Blick in den vielen potentiell bedeutungsvollen Einzelheiten, die ihm aus jedem Bild entgegen springen: "Was ist das für ein Medaillon, was ist das für ein Ring, den Du trägst? [...] Die Frau neben Dir ist wohl die Frau eines Direktors, die Hand zwischen Euch gehört wohl ihr? Wo ist aber Deine zweite Hand, und warum drängen sich Deine beiden Nachbarn so? Oben umsäumt Deinen Rock eine Spitze, nicht wahr?" Häufig bestehen Kafkas fotografische Kommentare aus einer langen Reihe von Fragen, deren Beantwortung neue, größere Unsicherheiten hervorruft. So beunruhigt ihn das im obigen Zitat beschriebene Gruppenbild eines Firmenballes ganz besonders, denn die dort sichtbaren Details - etwa die von ihm hervorgehobene Hand - können nicht immer klar kategorisiert und zugeordnet werden. Während Felices Fotos ausschnittweise Einblicke in ihr tägliches Leben bieten, verstärken sie zugleich Kafkas Unsicherheit und Eifersucht.

Erst als er Felice nach einem halben Jahr zum ersten Mal wiedersieht, verliert die Fotografie ihre obsessive Bedeutung. So schreibt er ihr nach dem Treffen in Berlin: "Ich habe Dich zu lange in Wirklichkeit gesehn [...], als daß mir Deine Photographien jetzt etwas nützen könnten. Ich will sie nicht ansehn. Auf den Photographien bist Du glatt und ins Allgemeine gerückt, ich aber habe Dir in das wirkliche, menschliche, notwendig fehlerhafte Gesicht gesehn und mich darin verloren. Wie könnte ich wieder herauskommen und mich in bloßen Photographien zurechtfinden!" Ganz ernst ist diese Versicherung nicht zu nehmen. Sowohl im Briefwechsel mit Felice wie auch in darauf folgenden Korrespondenzen kommt Kafka weiterhin wiederholt auf die Fotografie zu sprechen. Dabei ist allerdings wenig von dem die frühen Briefe kennzeichnenden Foto-Enthusiasmus zu spüren. Stattdessen betont Kafka zunehmend die dem Medium zugrundeliegenden Ambivalenzen und Probleme. Seine Kritik an der Fotografie kommt nirgends dezidierter zur Sprache als in seiner Haltung den eigenen Fotos gegenüber.

Fotografische Doppelgänger

Kafkas Fotografien gehören weltweit zu den bekanntesten aller Autorenbilder. Seine introvertierten, oft leicht melancholischen Porträts haben unsere Vorstellung des Menschen Kafka und seiner Werke entscheidend geprägt, denn sie scheinen die Atmosphäre der Texte auf eine schwer bestimmbare Weise wiederzuspiegeln. Kafka selbst hätte einer solchen Lesart sehr kritisch gegenüber gestanden, denn oft warnt er in seinen Briefen davor, seine Fotos als akkurate Wiedergabe der Wirklichkeit zu betrachten. So kommentiert er ein an Felice Bauer versandtes Bild: "Ein verdrehtes Gesicht habe ich in Wirklichkeit nicht, den visionären Blick habe ich nur bei Blitzlicht". Anlässlich eines anderen Fotos formuliert Kafka seine Vorbehalte noch drastischer: "Ich weiß mir keine Hilfe, dieses Blitzlicht gibt mir immer ein irrsinniges Aussehn, das Gesicht wird verdreht, die Augen schielen und starren", und in einem weiteren Brief schreibt er: "Alles in allem bitte ich Dich nur, vor dem Bild nicht zu erschrecken."

Kafkas von Neurosen und Komplexen geprägtes Selbst- und vor allem Körperbild ist in seinen autobiografischen Schriften zur Genüge belegt und kommt auch in diesen Zitaten zum Ausdruck. Dieses vertraute Mantra ist hier jedoch speziell auf die Fotografie und deren technische Effekte zugeschnitten, insbesondere auf das Blitzlicht, dessen verzerrenden und entstellenden Effekt Kafka hervorhebt. Das fotografische Ich erscheint als unheimlicher, von der Kamera in seiner Pose dauerhaft festgehaltener und damit der Zeit entzogener Doppelgänger, der ein vom fotografierten Subjekt unabhängiges Eigenleben führt und dessen - potentiell verstörende - Wirkung auf den Betrachter Kafka vorwegzunehmen und damit zu entschärfen sucht.

Kafkas obige Kommentare sind bewusst zugespitzt und ironisch überhöht. Gleichwohl enthalten sie einen wichtigen Aspekt, der auch in den literarischen Texten immer wieder zur Sprache kommen: die Tendenz des Mediums, den abgebildeten Gegenstand subtil zu verändern. Wie die obigen Zitate illustrieren, betrachtet er die Fotografie nicht als neutrales, die Wirklichkeit mimetisch reproduzierendes Medium. Sie ist ihm im Gegenteil ein Instrument der Wirklichkeitskonstruktion und -manipulation. Bilder seiner "schiefgedrehte[n] Fratze" (so Kafka an Grete Bloch) veranschaulichen die Kapazität des Apparats, das von ihm Aufgenommene zu verändern und zu entstellen. In Anspielung auf dieses Phänomen prägt Walter Benjamin in den 1930er-Jahren den Begriff des "Optisch-Unbewußten"; er bezieht sich damit auf jene - teils verstörenden, teils erhellenden - Aspekte der Wirklichkeit, die dem nackten Auge verborgen bleiben, die aber durch den fotografischen Blick ans Licht gebracht werden.

Fotografie im Roman: Studioporträt und Schnappschuss

Während Kafka einerseits diese entstellende, exponierende Kapazität der Fotografie im Hinblick auf seine eigenen Bilder kritisiert, macht er sie andererseits literarisch fruchtbar. Wiederholt thematisiert er beispielsweise die vor allem in der Porträtfotografie zutage tretenden psychosozialen Machtstrukturen. Angesichts eines alten Kinderporträts schreibt er an Felice: "Als Erstgeborener bin ich viel photographiert worden und es gibt also eine große Reihenfolge von Verwandlungen. Von jetzt an wird es in jedem Bild ärger, Du wirst es ja sehn. Gleich im nächsten Bild trete ich schon als Affe meiner Eltern auf."

Die Porträtfotografie dient hier der Stabilisierung präskriptiver Identitätsmodelle. Das fotografierte Kind wird zur Projektionsfläche elterlicher Wünsche und Erwartungen, die es vor der Kamera auszuagieren gezwungen wird. Als 'Affe seiner Eltern' erscheint das Kind als passiver, marionettenhafter Imitator elterlicher Vorgaben. Gleichzeitig jedoch eignet dieser Metapher auch eine subversive Dimension, denn wie das Beispiel Rotpeters im "Bericht für eine Akademie" illustriert, hält der Affe der von ihm nachgeahmten Gesellschaft einen entlarvenden Zerrspiegel vor.

Der in dieser Briefstelle angesprochene Mechanismus zieht sich wie ein roter Faden durch Kafkas Romane und Erzählungen. Immer wieder erscheint vor allem die Porträtfotografie als ein Instrument des Konformismus und der sozialen Kontrolle, so etwa in seinem erstem Roman "Der Verschollene", wo der junge Karl Roßmann dem arretierenden Blick der Eltern wie auch der Kamera ausgesetzt ist: "Es gab auch eine Photographie, auf welcher Karl mit seinen Eltern abgebildet war, Vater und Mutter sahen ihn dort scharf an, während er nach dem Auftrag des Photographen den Apparat hatte anschauen müssen." Die Kamera erscheint als Instrument der Disziplinierung; die vom Fotografen festgehaltene Familienszene ähnelt einem Straftribunal, wie denn auch das resultierende Foto Karls Verbannung durch seine Eltern antizipiert.

Aber auch außerhalb der Familie erweist sich in Kafkas literarischer Welt das Subjekt häufig als fotografisch konditioniert. Dies veranschaulicht ein in Kafkas Texten - in "Der Verschollene", "Die Verwandlung", "Blumfeld ein älterer Junggeselle" und "Das Schloß" - immer wieder vorkommendes Motiv: das Soldatenbild. Für Karl Roßmann verkörpert das Porträt eines jungen uniformierten Soldaten das Ideal selbstbewusster Männlichkeit: dieser steht "stramm mit seinem wilden schwarzen Haar da [...]" und ist "voll von einem stolzen aber unterdrückten Lachen". Als er eine Anstellung als Liftboy bekommt, glaubt er sich der Verkörperung dieses Ideals nahe. Die ihm zugewiesene Uniformjacke ist jedoch noch feucht vom Schweiß seiner Vorgänger und spannt über der Brust. Wie schon Kafkas Kommentar zu seinem eigenen Kinderbild impliziert, entfaltet auch in der Literatur das Nachahmen vermeintlicher Vorbilder eine restriktive, selten eine emanipatorische Wirkung. In dieser Hinsicht ist das von Kafka wiederholt thematisierte Soldatenfoto ein Paradebeispiel restriktiver Identitätskonstruktionen: seine klischeehaft maskuline Pose projiziert Sicherheit und Zugehörigkeit, ist jedoch durch den Verlust autonomer Individualität erkauft.

Neben dem fotografischen Porträt spielt in Kafkas Texten noch eine weitere fotografische Gattung eine wichtige Rolle: die Momentaufnahme. Im Gegensatz zum gestellten Porträt betont der Schnappschuss gerade nicht das der Fotografie zugrundeliegende Element der Kontrolle, sondern das Nicht-Kontrollierbare, das bei der Aufnahme immer mitschwingende Element des Zufalls. An ihm wird die der Fotografie innewohnende Ambivalenz augenfällig, denn die solchermaßen aufgenommenen Bilder verschließen sich häufig der eindeutigen Auslegung: Ein nach einem 'Wirbeltanz' aufgenommener Schnappschuss von Josef K.s Geliebter Elsa in "Der Proceß" hält zwar deren Lachen fest, aber "wem ihr Lachen galt, konnte man aus dem Bild nicht erkennen". In "Das Schloß" dagegen findet sich K. mit einem Bild konfrontiert, das er grundsätzlich missversteht. Er interpretiert das Foto, das ihm die Wirtin Gardena vorlegt, als Bild eines ruhenden Mannes, muss jedoch feststellen, dass es sich hierbei um den Schnappschuss eines den Hochsprung übenden Boten handelt. Indem die Fotografie Bewegung arretiert und das zeitliche Kontinuum in statische Einzelbilder zerlegt, stellt sie zugleich fundamentale Kategorien menschlicher Wahrnehmung in Frage: Bewegung und Stillstand, Wachen und Schlafen, Leben und Tod.

K.s Fehlinterpretation des Schnappschusses ist symptomatisch für eine allgemeine Wahrnehmungs- und Deutungskrise in der Moderne, deren technisch (re-)produzierte Wirklichkeit sich dem menschlichen Zugriff immer weiter entzieht. Die Tatsache, dass Kafka bei allen Vorbehalten immer wieder auf die Fotografie zu sprechen kommt, verdankt sich jedoch gerade der ihr innewohnenden Ambivalenz und Opazität. So exponiert die Fotografie in seinen Texten wiederholt die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung - damit aber auch die Grenzen des Mediums Literatur, das sich am fotografischen Bild abarbeitet, ohne es letztlich zu erschöpfen. Indem sich die Fotografie ihrer Übersetzung in den literarischen Text widersetzt, gewinnt sie aber zugleich eine wichtige selbstreflexive Bedeutung: Wie die von Kafka beschriebenen Fotos bieten auch seine eigenen Texte ein nur auf den ersten Blick vertrautes Bild der Wirklichkeit, das sich jedoch durch inkongruente Details und verzerrende Perspektiven dem Betrachter sukzessive entfremdet. Somit ermöglicht die Medium der Fotografie einen ganz besondere Zugang zu Kafkas Werk, seinen Motiven, Inspirationsquellen und seiner inhärenten Poetik.


Titelbild

Carolin Duttlinger: Kafka and Photography.
Oxford University Press, Oxford 2007.
280 Seiten,
ISBN-13: 9780199219452

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