Sprachgewordene Destillate lateinamerikanischer Momenteindrücke
Timo Bergers Gedichtband "Ferne Quartiere"
Von Thorsten Schulte
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseTimo Berger entführt mit seinem neuen Gedichtband "Ferne Quartiere" nach Lateinamerika; er lädt mit seinen Versen dazu ein, Rio de Janeiro und Buenos Aires, wo er selbst einige Zeit gelebt hat, einmal anders zu erfahren. Die Gedichte versetzen in einen Rausch der Sinne - "Ferne Quartiere" ist ein Buch wie Champagner, es steigt schnell zu Kopf.
Timo Berger stimuliert mit seinen bildgewaltigen Worten alle Sinne des Lesers. Der Leser spürt die schwere Hitze Rios, riecht den frisch gefangenen Hering der Fischer, schmeckt das Salz des Meeres und sieht den Stadtteilgrill, Tauben und Paraglider am Zuckerhut und schließlich den "Bus 372". Die Busfahrt wird zum Erlebnis, ein sprachgewordenes Destillat des Momenteindrucks; dreiundsechzig bildgewaltige Worte kulminieren in der versteckten Kritik an der Monotonie des Alltags, wenn Passagiere durch das Drehkreuz in den Minutenschlaf fallen, versunken in der ohnmachtartigen Erholung des Feierabends. Der romantische Schleier der "saftigsüßen" Welt der Busse und des Schaffners wird somit zerrissen von soziologischer Kritik am Arbeitsalltag der Mitfahrenden.
Indem er die Facetten des Wirklichen ästhetisiert, hüllt Timo Berger den Leser also nicht in reines Wohlgefallen, sondern lädt zur Einkehr des Auges ein. Es ist wie der Titel eines Gedichts ein wahres "Endspiel in den Tropen". Kritische Vernunft ist gefragt. Zwischen Strandatmosphäre mit Copacabana-Coconut-Dealern, Beach Volleyball und prêt-à-porter und dem Überfall auf einen Pizzabäcker, dessen Blut letztlich über die Kleidung der Gäste spritzt - und damit eine ironisch-überspitzende Sorge um die Originalautogramme auf dem befleckten Fußballtrikot erregt, erwachsen klassische bipolare Spannungsfelder von Arm und Reich, Schwarz und Weiß. Im Gedicht "Fernbedienung" wird der Mensch auf Körpermasse und Daumen reduziert, im Fernseher flimmert Gewalt, der Geist des im Staub sitzenden Unbekannten scheint betäubt. Einige Seiten zuvor wurde über die Einrichtung zuletzt besuchter Lofts diskutiert - Arm und Reich vereint in der Verdummung.
Der 1974 geborene Wahlberliner und Weltreisende Timo Berger zählt zweifellos zu den hoffnungsvollen jungen deutschen Lyrikern. In den letzten Jahren hat er es bereits zu einer beeindruckenden Fülle von Veröffentlichungen gebracht - ob als Übersetzer lateinamerikanischer Gedichte oder als Journalist, freier Autor oder Kritiker. Er schreibt etwa in der marxistischen Tageszeitung "Junge Welt" über den Bandenführer "Pichichu", eine Art Robin Hood von Buenos Aires, und den linken Peronismus. Wandelt Berger hier auf den Spuren des jungen Bertold Brecht? Ein Vergleich scheint hoch gegriffen, aber die kluge Kritik an bestehenden Grenzen und scheinbaren Ordnungen ist in der Tat fesselnd. Bergers Anthologie "Ferne Quartiere" ergreift auf wundersame Weise, lässt in die Ferne schweifen und weist gleichzeitig auf mögliche Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen hin. Es bleibt der Durst nach mehr. Man darf gespannt sein, welchen Weg Timo Berger in den kommenden Jahren einschlägt.
|
||