Der Zwang, schön zu reden

Hermann Peter Piwitts Roman "Der Granatapfel" in einer Neuausgabe

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dichter, Italiener, Klatschkolumnist der feinen Gesellschaft, Schuldenmacher, Liebling und Verführer von Frauen, Kriegsheld, politischer Agitator - die Rede ist hier aber nicht von Gabriele d'Annunzio, sondern von Gabriele Taumaturga, dem zweifelhaften Helden von Hermann Peter Piwitts Roman "Der Granatapfel" von 1986, den der Wallstein Verlag nun dankenswerterweise neu aufgelegt hat. Die Parallelen zum historischen Vorbild sind gleichwohl offensichtlich und sollen es auch sein.

Ist d'Annunzio bereits 1938 gestorben, so lässt Piwitt sein Nachbild noch das Kriegsende erleben und damit das Ende des faschistischen Staats, dessen Galionsfigur Taumaturga war. Ein Achtzigjähriger, nun halb gefangen in einer palastartigen Villa mit einem unvollendeten Mausoleum, blickt auf die ersten Jahrzehnte seines Lebens zurück. Die Konstellation ist geschickt gewählt: So kann Piwitt über Politik schreiben und muss sie doch kaum je erwähnen. Kolonialpropaganda, der Aufruf zur italienischen Teilnahme am Ersten Weltkrieg, die sinnlosen Heldentaten als Flieger wie in den Kämpfen der Nachkriegszeit: Das alles wird nur am Rande genannt. Im Zentrum der Erinnerungen stehen vielmehr die Jugend Taumaturgas und seine ersten Jahre als Schriftsteller; genauer: die Erinnerung daran.

Vor allem wird dargestellt, wie der Alte sich erinnern will. "Offen gesagt, es ist alles gelogen", lautet der erste Satz. Wenn es aber gelogen ist, so ist es gut gelogen, und das in sogar zweierlei Hinsicht. Erstens demaskiert seine Lüge Taumaturga mehr als jede Wahrheit es könnte. Alles ist ihm Spiel, alles Abenteuer. Die Jugendjahre eines Faschisten sind in diesem Roman vor allem seine Liebesgeschichten. Er verführt durch Unmoral und durch seinen schlechten Ruf - ein Don Juan, der behauptet, nicht zu bereuen, und der, wenn er auch kaum etwas zur Individualität der eroberten Frauen zu sagen weiß, doch sinnliche Details abzurufen vermag: einen Duft etwa, oder einen Flaum der Nackenhaare. Dergleichen erschöpft sich schnell, und weniger verrät ihn sogar, dass die Frauen ihm bald gleichgültig werden, als sein genervter Ton, wenn die so Erledigten nicht einsehen mögen, dass sie für ihn abgetan sind.

Die Frauen, wie Menschen überhaupt, sind ihm Mittel, aber zu keinem Zweck. Der Triumph genügt sich selbst. Das ist, zweitens, gut und aufrecht gelogen von einem Greis, der radikal diesseitig zu denken versucht und der diesseitige Siege nicht mehr zu erwarten hat. Der Faschist, den es zu demaskieren gilt, verweist auf ein nach seinen Kriterien erfülltes Leben und hat es wohl wirklich gehabt. Und er hat es nicht gehabt als mürrisch formuliertes Zugeständnis des Autors, sondern bedingt durch die ästhetische Grundlegung des Werks: denn der Roman ist in Figurenrede geschrieben, und Taumaturga miserabel reden zu lassen, hätte einen miserablen Roman bedeutet. Piwitt gibt indessen dem Greis eine sinnliche Sprache, die das Rom von 1880 bunter erscheinen lässt als es gewesen sein dürfte und die jeder Etappe der erinnerten Liebesfeldzüge eine Plastizität verleiht, die viele, die aufrichtiger lieben, wohl nicht einmal erstreben. Taumaturgas Stärke ist die Wahrnehmung bar jeder Metaphysik - wohlgemerkt die erinnerte Wahrnehmung, die Lüge; die Vergangenheit war vielleicht trivialer.

Piwitt hat der Neuausgabe ein Nachwort beigefügt, in dem er das Utopische von Taumaturgas Anti-Metaphysik durchaus benennt, doch das Ideologiekritische betont; wie konnte so einer zum Ideal werden; ein Schlawiner wie heute Berlusconi? Das trifft zwei Dimensionen des Romans und vernachlässigt eine dritte: dass geredet werden muss. Taumaturga wehrt immer wieder deutsch-protestantisches Gewissen ab und auch jede Form der Beichte. Einmal heißt es: "Was rede ich. Unaufhörlich. Als ob es etwas zu beichten gäbe. Was mache ich da. Nur Verrückte und Protestanten gestehen freiwillig. Der Zweifel in sich selbst, ob's auch recht ist und moralisch, was man dabei tut und nicht doch ein Haken dabei: darüber nachzugrübeln, das ist die eigentliche Sünde." Und nun redet und nun grübelt er; eine Sünde, die doch auf das Bewußtsein verweist, gesündigt zu haben.

Die Abwehr von Schuld verrät den Konflikt dieses Lebens und zeigt damit eine Dimension von Tiefe, die Taumaturga verzweifelt leugnen will. Lohn der Mühe ist ein sprachlicher Reichtum, mittels dessen Piwitt das Diesseits feiert und gleichwohl im sozialen Bewusstsein, das Taumaturga immer wieder zurückzudrängen versucht, die gesellschaftlichen Kosten eines solchen Aristokratismus bewahrt. Widersprüchlich genug, verweist der Widerling entgegen seiner Überzeugungen auf das utopische Ziel: auf einen von jeder tradierten Moral befreiten Luxus für alle.

Heute ist solcher Luxus nur auf Kosten der meisten vorstellbar. Taumaturga, im hierarchischen Denken befangen, will ihn nur für sich, und das führt ihn zur Ablehnung sozialistischer Gedanken, mit denen er konfrontiert wird. Piwitt aber gelingt es, durch das Sprachfest, das er den Gegner entfalten lässt, gegen dessen Absicht das utopische Eigene aufscheinen zu lassen. Fast jeder Satz in diesem außerordentlichen und sprachlich nahezu perfekten Roman, den sich der Feind Taumaturga herbeierinnert, hat eine Kraft, die seinen miserablen Anlass transzendiert.


Titelbild

Hermann Peter Piwitt: Der Granatapfel. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
214 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783835301634

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