Der lange Schatten des Nationalsozialismus

Ein Sammelband fragt nach dem Einfluss restaurativer Potentiale auf die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als kürzlich eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung beträchtliche Potentiale einer Demokratieentfremdung in Deutschland aufdeckte, geriet einmal mehr die Frage nach der grundsätzlichen Akzeptanz der Demokratie in Deutschland ins Blickfeld. Diese Frage begleitet die demokratische Bundesrepublik seit ihrem Beginn: Sind die Deutschen bereit, aktiv für ihre Demokratie einzustehen? Oder steht und fällt die Akzeptanz dieser Gesellschaftsform am Ende doch nur mit dem Maß des wirtschaftlichen Wohlbefindens? War dies überhaupt erst die Grundlage dafür, dass Demokratie in Deutschland nach der Naziherrschaft funktionieren konnte? Allein, seit 1949 funktioniert der demokratische Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland und deshalb schon kann man von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Kann man?

Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes über die "Nachkriegsgesellschaft im Schatten des Nationalsozialismus" setzen hinter "Erfolgsgeschichte Bundesrepublik" ein Fragezeichen. Sie betrachten den demokratischen Neuanfang in Deutschland nach 1945, der in den westlichen Besatzungszonen nach dem Vorbild westlicher Demokratien gestaltet wurde, während für den Osten das Modell der sozialistischen "Volksdemokratie" vorgesehen war, dahingehend, wie sehr der "demokratische Neuanfang" im Westen doch noch unter dem Einfluss der Nazivergangenheit stand. Neben der beschreibenden Feststellung dieses Einflusses interessiert dabei die Frage, wie er sich auf die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik auswirkte. Und hier gilt es festzuhalten: Trotz der in manchen Bereichen der Gesellschaft massiven Einflussnahme, die vor allem durch die vielfältigen personellen und ideellen Kontinuitäten, die aus der Nazizeit bis in die Bundesrepublik wirkten, ermöglicht wurden, hat sich die demokratische Substanz der neuen Gesellschaft bewährt. Sie hat sich durchgesetzt und eine Restauration des rückwärtsgewandten demokratiefeindlichen Potentials verhindert.

Doch war (und ist) dies keine eindeutige und lineare Entwicklung. Die restaurativen Tendenzen der westdeutschen Gesellschaft, darauf verweisen die Beiträge des Bandes unter den Abschnitten "Personelle Kontinuitäten", "Gesellschaftlicher Umgang mit dem Nationalsozialismus", "Literatur und Theater" sowie "Justiz und NS-Herrschaft", waren immer eine akute Gefahr für die demokratische Entwicklung. Mehr noch: Betrachtet man die Anstrengungen, mit denen etwa die Justiz und ihre Angehörigen bemüht waren, sich nach 1945 einer Verfolgung und Bestrafung zu entziehen, so kann dies nur als beschämendes Unrecht angesehen werden. Die juristischen Begründungen, mit denen die NS-Justizverbrechen relativiert, beschönigt oder gar verleugnet wurden, waren eines demokratischen Rechtstaates unwürdig. Zwar habe es auch, darauf weist Axel von der Ohe in seinem Beitrag "Der Bundesgerichtshof und die NS-Justizverbrechen" hin, innerhalb der Justiz eine andere Rechtsaufassung zur "Beurteilung" der NS-Justiz gegeben, doch habe sie sich nicht allgemeingültig durchsetzen können. Als ein zentraler Baustein des NS-Unrechtsregimes blieben die Justiz und die Amtsträger der NS-Justiz nahezu völlig unbehelligt.

Das Maß der restaurativen Einflussnahme war bis weit in die 1970er-Jahre immer auch bestimmt von der politischen Großwetterlage, der Ost-West-Konfrontation des Kalten Kriegs. Als im Winter 1959/1960 antisemitische Schmierereien in Köln und kurz darauf an vielen anderen Orten in der Bundesrepublik auftauchten, reagierte die Öffentlichkeit schockiert. Aber schon bald, das zeigt Shida Kianis Beitrag "Zum politischen Umgang mit Antisemitismus in der Bundesrepublik", wurde die "Schmierwelle" in bewährte Formen der politischen Instrumentalisierung überführt. Es ging nun weniger um die Aufarbeitung nach wie vor vorhandener antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung, sondern einzig um die Wahrung des Images. Deshalb waren die Täter entweder dumme "Rowdies", die außerhalb der Gesellschaft standen, oder aber als Erfüllungsgehilfen kommunistischer Destabilsierungsbemühungen gedungene Schergen. Das antikommunistische Argument ,bereinigte' den Skandal.

In ähnlicher Weise erhielt das restaurative Potential auch in anderen Gesellschaftsbereichen Rückendeckung. Mahner vor diesen restaurativen Tendenzen, wie Walter Dirks, Eugen Kogon oder Karl Jaspers, gerieten in die Defensive und sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, kommunistische Erfüllungsgehilfen zu sein. Claudia Fröhlich zeigt in ihrem Beitrag "Restauration", dass die Widerrede gegen das Restaurationsargument einmal mehr auch von denen geführt wurde, die im nationalsozialistischen Staat Aufgaben und Funktionen hatten. Gegen den aktiven Staatsbürger, mit dem die Restaurationskritiker die Vorstellung einer sich dynamisch entwickelnden demokratischen politischen Kultur verbanden, wurde ein etatistisches und elitäres Politikverständnis ins Feld geführt, dessen Demokratieskepsis offensichtlich war. Die Folge war "eine Ungleichzeitigkeit in der Realisierung demokratischer Ordnung" in der Bundesrepublik. "Die westdeutsche Nachkriegsgeschichte kann als eine ambivalente, erfolgreich demokratische und restaurative Geschichte geschrieben werden."

Wie sehr der "lange Schatten des Nationalsozialismus" auch heute noch "neue Tendenzen der Geschichtsschreibung" verdunkelt, zeigt der aufschlussreiche Beitrag "Die NS-Despotie als ,Volksstaat'?" von Joachim Perels. Der Beitrag warnt am Beispiel des Buchs "Hitlers Volksstaat" von Götz Aly vor einer "revisionistischen Deutung des Dritten Reiches". In dem Bemühen, die These der durch gezielte sozialpolitische Leistungen des Regimes hergestellten "Massenloyalität" im "Dritten Reich" zu untermauern, würden Begriffe wie "nationaler Sozialismus" als Legitimationsformen des Regimes unkritisch übernommen, während das Machtsystem als Ganzes in den Hintergrund gerate. Das ist fürwahr ein Problem vieler Arbeiten, die im Detail durchaus Erkenntnisgewinne versprechen: Im Blick auf Teilausschnitte der nationalsozialistischen Herrschaft gerät zuweilen das Ganze aus dem Blickfeld. Wenn aber das ,Funktionieren' von Teilbereichen erläutert wird, ohne dies mit den grundsätzlichen Erkenntnissen zum nationalsozialistischen Herrschaftscharakter zu verbinden, dann werden Ausschnitte legitimiert und das Ganze verharmlost.


Titelbild

Stephan Alexander Glienke / Volker Paulmann / Joachim Perels (Hg.): Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
396 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302495

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