Das "kleine Glück" im Sport

Vom Gesellschaftsbezug des Sports handeln Mathias Marschiks Studie zu "Fußballkulturen in Wien" sowie das Sammelbändchen "Wer macht den Sport kaputt?" von Rolf-Günter Schulze und Martin Krauß

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Österreich und Fußball - das mutet dem zeitgenössischen Beobachter nicht eben als eine besonders glückliche Konstellation an. Während der Fußball-Europameisterschaft 2008, die in Österreich und der Schweiz stattfand, konnte man in Interviews skeptische Fußballkommentatoren hören, die mit achselzuckender Selbstverständlichkeit darauf hinwiesen, dass dieses Fußballereignis für Österreich vor allem deshalb ein Glück gewesen sei, weil die Nationalmannschaft als das Team eines der Gastgeber zumindest einmal auf diese Weise an einem großen Turnier teilnehmen könne. Sportlich habe sie keine Chance, sich zu qualifizieren. Als dann die Mannschaft während der Vorrunde gegen Deutschland spielen musste, wurden die Gefühlswelten der österreichischen Fußballnation auf geradezu komische Art deutlich. Überall hörte man das "I wer' narrisch!" des österreichischen Rundfunkreporters Edi Finger. Finger kommentierte das WM-Spiel Deutschland gegen Österreich 1978 im argentinischen Córdoba. Hans Krankl schoss damals das Tor zum 3:2 für die Österreicher, mit dem sie den damals amtierenden Weltmeister Deutschland schlugen. Als "Wunder von Córdoba" besetzt das Ereignis seitdem die Seelen österreichischer Fußballenthusiasten.

So groß dieses Wunder gewesen sein mag, so enttäuschend war alles, was danach kam. In der aktuellen FIFA-Rangliste findet sich Österreich auf dem 105. Rang.

Das war nicht immer so. Der Fußball in Österreich hatte einstmals nicht nur eine eigene ästhetisch-sportliche Qualität, die ihn "legendär" machte, sondern er spielte auch als soziokulturelles Identifikationsmodell für viele Menschen eine besondere Rolle. Matthias Marschik geht in seiner Untersuchung "Massen, Menatilitäten, Männlichkeit" über die "Fußballkulturen in Wien" noch einen Schritt weiter: Der populäre Massensport Fußball "bildet keineswegs nur ein Abbild gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Prämissen, sondern bildet eigene Sportkulturen heraus, die Entwicklungen in anderen Feldern der Gesellschaft vorwegnehmen oder abändern oder auch eigenständige Bedeutungen auf- und ausbauen können." Im speziellen Fall des Wiener Fußballsports ist dieser also nicht nur "Abbild einer Wiener Identität", sondern leistet eigenständige Beiträge zur "Ausbildung, Aufrechterhaltung oder Veränderung einer urbanen Wiener Mentalität."

Diese Bedeutung des Fußballs gründet zunächst auf der besonderen Stellung, die diese Disziplin im Vergleich mit anderen Sportarten genießt. Fußball diente deshalb immer schon als eine Art "Realitätsmodell" (Klaus Theweleit), aus dessen Analyse Vergleichbarkeiten zur ,realen Welt' des Politischen hergestellt werden sollten. Marschik bezieht sich einleitend indes nur knapp auf Konzepte zur Parallelisierung des Politischen mit dem Fußballerischen, sondern widmet sich sogleich den spezifischen Wiener Voraussetzungen. Hier wurde der Fußballsport seit den 1920er-Jahren zum dominierenden Sportzweig, "was seine massenkulturelle Präsenz und seine populäre Repräsentationen betrifft." Hinzu kommt freilich noch eine spezifische Wiener Melange: "Die Wiener Fußballkultur basiert letztlich auf der besonderen Mischung von ,Ordnung und Unordnung' [...], verbunden mit einer dem Sport immer wieder nachgesagten, wenn auch nie wirklich existierenden, Neutralität und politischen Absenz sowie dem Gefühl des Kleinen Glücks, wie es gerade in der Möglichkeit des Sieges des Kleinen gegen den Großen [...] zu finden ist."

In einem "historischen Längschnitt" beleuchtet der Band die Wiener Fußballkulturen. Der Streifzug durch die Historie beginnt um 1900, als der ,englische' Sport in Wien durch die Verbandsgründung ,ordentlich' in die bürgerliche Welt integriert wurde. Daran änderte auch die bald schon wachsende Popularität des Sports in der Arbeiterschaft nicht grundlegend etwas. Die "bürgerliche Hegemonie" über den Fußball blieb ungebrochen. Trotzdem trugen zur Popularisierung des Massensports Fußball in Wien seit den 1920er-Jahren gerade die Stadtduelle zwischen der ,bürgerlichen' Austria und dem "1. Wiener Arbeiter-Fußballklub", dem Sportklub Rapid bei. Aber es war nicht nur die .soziale Konkurrenz', die das Duell attraktiv machte. Beide Vereine repräsentierten auch die bestimmenden Auffassungen des Wiener Fußballs. Hier das technikbetonte körperlose Spiel, das von Spielern wie dem "Papierenen", Matthias Sindelar, zur erfolgreichen Fußballkunst veredelt wurde - dort der zähe, auf Kondition basierende Kampfgeist des Arbeiterklubs, in dessen berühmter "Rapid-Viertelstunde" noch so manches Spiel gedreht wurde. Beide Spielweisen verschafften den Wienern (und den Österreichern) während der NS-Zeit "das kleine Glück", als in den Spielen gegen Vereine des "Altreichs" beeindruckende Siege errungen wurden. Geradezu idealisiert als eine Art österreichische Widerspenstigkeit gegen die Vereinnahmung des großen Nachbars wurde das mit "List, Kreativität und ,Wiener Schmäh'" verbundene ,Scheiberlspiel', mit dem man dem einfallslosen deutschen ,Kraftfußball' begegnete. Ein schöner Trug...

Nach dem Krieg erlebte die "fußballerische Begeisterung in Wien" noch einmal Höhepunkte. Sie kulminierte in der Begeisterung für die 1954er-Weltmeisterschaft im Nachbarland Schweiz. Doch wurde nun auch deutlich, "dass die lokale Fußballkultur [...] sukzessive durch ein sportliches Nationalgefühl verdrängt wurde." Die "Wiener Vorherrschaft im Fußball" fand ihr Ende. Die "Verösterreicherung" des Fußballs bedeutete aber zugleich auch eine Provinzialisierung. Im professionalisierten Spektakel des Weltfußballs spielt Österreich seitdem nur eine kleine Nebenrolle.

Wenn aber Matthias Marschik zum Ende seiner interessanten Studie "in den letzten Jahren eine Wiederkehr der Traditionen des Wiener Fußballs" feststellt, dann ist dies auch ein Reflex auf die entfremdenden Mechanismen des ökonomisierten und globalisierten Fußballs. Es geht um die "Konstruktion eines Ortes, an dem in Zeiten der zunehmenden Fragmentierung von individueller Identität ein kollektives ,Wir'-Gefühl aufgebaut, in einer Phase der ,political correctness' bedingungslose Parteilichkeit gelebt werden kann." So wird das Stadion wieder zum "typisch wienerischen Ort", dem "Refugium des ,kleinen Glücks'".

Möglicherweise ist dieses "kleine Glück" aber nur für den Preis einer Selbsttäuschung zu erringen. So wie die von Marschik als Selbsttäuschung identifizierte politische Neutralität des Sports; sie ist letztlich eine Idealisierung, die, um mit Max Frisch zu sprechen, die politische Parteinahme, die man vermeiden möchte, bereits vorgenommen hat. Dennoch werden derartige irreführenden Idealisierungen zuweilen auch als das "Spezifische" des Sports herausgehoben, um diesen in der Konkurrenz zu anderen gesellschaftlichen Bereichen zu stärken. Will man indes tatsächlich den Sport zu einem gesellschaftlich relevanten Player machen, dann ist möglicherweise ein radikaler Perspektivenwechsel hilfreich, wie ihn das kleine Bändchen "Wer macht den Sport kaputt?" anbietet. Die Herausgeber Rolf-Günther Schulze und Martin Krauß versammeln zehn beeindruckende Beiträge zur Thematik "Doping, Kontrolle und Menschenwürde". Beeindruckend deshalb, weil die Beiträge die Thematik aus ungewöhnlichen Perspektiven beleuchten, deutliche Einschätzungen vornehmen und damit en passant auch eine zuweilen doppelzüngige Naivität bei der Diskussion des Themas entlarven. Doping, so lässt sich festhalten, berührt auch eine gesellschaftspolitische Machtfrage. Sie bindet den Sport immer wieder an die Gesellschaft, in der er stattfindet.


Titelbild

Matthias Marschik: Massen, Mentalitäten, Männlichkeit. Fußballkulturen in Wien.
Bibliothek der Provinz, Weitra 2005.
158 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3902416033
ISBN-13: 9783902416032

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Titelbild

Rolf-Günther Schulze / Martin Krauß (Hg.): Wer macht den Sport kaputt? Doping, Kontrolle und Menschenwürde.
Verbrecher Verlag, Berlin 2008.
173 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426055

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