Le mot juste

In "Kein Schlaf in Sicht" begibt sich Henning Ahrens auf die Suche nach den "richtigen" Wörtern

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Henning Ahrens war es eine lange Zeit (weitgehender) lyrischer Abstinenz: Nach seinen beiden Gedichtbänden "Lieblied was kommt" (1998) und "Stoppelbrand" (2000) wandte sich der Autor der Prosa zu, veröffentlichte - neben zahlreichen Übersetzungen - drei Romane und nahm mit Vorstufen zum zweiten gar am Klagenfurter Literaturwettbewerb teil. Nach acht Jahren erschien mit "Kein Schlaf in Sicht" nun unlängst wieder ein Lyrikband des Autors - mittlerweile ebenso wie seine Prosa im S. Fischer Verlag. Was, so wird sich der Ahrens-Afficionado voller Vorfreude fragen, hat dieser Band wohl alles Neues zu bieten? Die Antwort darauf fällt zunächst eher ernüchternd aus: Den Verlagswechsel hat Ahrens zum Anlass genommen, eine Art Interims-Gesamtausgabe mit "Gedichte[n] aus den letzten zehn Jahren" zu veranstalten, so dass neben einer gekürzten Version des "Olga-Zyklus" aus "Stoppelbrand" auch die zuvor bereits in "Akzente" (1/2002) erschienenen "Kostproben" Gedichte aufgenommen wurden. Diesen stellt der Autor einen bislang unveröffentlichten Zyklus aus dem Jahre 1998 zur Seite, sowie zwischen 2002 und 2006 entstandene Gedichte, die er selbst als "Wegmarken einer turbulenten Lebensphase" bezeichnet. Die neuesten Texte, insgesamt rund 25, wiederum entstammen dem Jahr 2007.

Doch bevor die Gedichte selbst betrachtet werden, soll zuvor noch ein kurzer Blick auf den - so steht zu hoffen - informativen Klappentext geworfen werden, der sicherlich Aufschluss darüber geben wird, was die geneigte Leserschaft erwartet: "Die Welt", so erfährt man hier, "und ihre Phantasie sind nur durch eine hauchdünne Membran getrennt." (Ach was...) "Dort, in den Zwischenwelten, den märchenhaften und unwahrscheinlichen Bereichen des Gewöhnlichen, entstehen Augenblicke größter Realität." (Ach so?) "Der großen Intensität des Gefühls gelingt es in diesen Gedichten, dem Alltag Leben einzuhauchen." (???) "Es sind Visionen, die mit den Lebenslügen aufräumen. Am Rande der Zeit, des Traums und des Hier und Jetzt entsteht eine leuchtende Eigenständigkeit, wie sie nur noch im Gedicht gelingen kann. Es ist nicht der Versuch, schöne Worte zu finden, sondern die Sehnsucht nach den richtigen."

Spätestens hier wird sich selbst der geneigteste Leser fragen, wer eigentlich diese Klappentexte schreibt, und während man noch rätseln mag, ob denn nun "große Intensität des Gefühls" für den Leere-Phrase-Award 2008 nominiert werden sollte oder doch eher die "leuchtende Eigenständigkeit", rauscht der Rest des Textes mit weiteren prätentiös-intellektuellen Plattitüden an einem vorbei, bevor sich der Blick dann doch, zumindest für einen Moment "maximaler Realität" im letzten Satz verfängt: "Jedes Gedicht ist auch ein Versuch, die schwierigen und schwerwiegenden Fragen mit Leichtigkeit zu stellen".

Bemerkenswert, wie es dem Klappentext-Exegeten gelingt, dadurch mit ebensolcher Leichtigkeit das Beste zweier lyrischer Welten miteinander zu verbinden, verspricht er doch intellektuell-emotionalen Tiefgang, der ja gerade der deutschen Lyrik immer so gerne nachsagt wird, gepaart mit einem Maß an joie-de-vie, wie man es hierzulande nur selten antrifft. Bemerkenswert allerdings auch, wie wenig diese Ausführungen mit den eigentlichen Texten zu tun haben: So schildern die 2007 entstandenen Gedichte der ersten Abteilung Ereignisse aus des Poeten Vita - fernab von hauchdünnen, semi-permeablen Traummembranen und der leuchtend-sehnsüchtigen Enttarnung von wie auch immer gearteten Lebenslügen.

In "Buchmesse, Leipzig" etwa erhält der Leser einen Einblick in das schier unvorstellbare Leid, das Autoren auf Buchmessen offenbar über sich ergehen lassen müssen, ausgelöst nicht zuletzt durch orthopädisch fragwürdige Cowboystiefel; diesen schwört das lyrische Ich am Ende des Gedichts (aus modischer Perspektive möchte man sagen: mindestens zwanzig Jahre zu spät) resigniert ab. Was folgt, sind weitere Vignetten aus dem Alltag des Dichters, Beobachtungen des dörflichen Lebens in der niedersächsischen Provinz, eine Reflexion über die parasitär-primitive Existenz von Literaturkritikern ("Eine große Herde ist das, die da auf den Büchern grast") und eine Darstellung der beklagenswerten Einkommensverhältnisse von Übersetzern: "Der Steuerprüfer will mich besuchen. Na, / soll der Bursche nur kommen - die Belege // für das schwindelerregend hohe Vermögen, / das ich mit dem Übersetzen angehäuft habe, // wird er nicht finden [...]". Dieser Malaise wiederum versucht Ahrens nicht zuletzt dadurch zu begegnen, dass er am Ende des Buches noch ganz en passant die Restexemplare seiner ersten beiden Bände an den Mann beziehungsweise die Frau zu bringen versucht: "Mögliche Interessenten können sich über den S. Fischer Verlag an mich wenden - ein paar Exemplare sind noch vorhanden."

Auch in Gedichten wie etwa "Übersetzung, Bellow" oder "Sammeltaxi, Bremen" ist von der angepriesenen "leuchtende Eigenständigkeit" weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil; im entspannten Parlando-Ton spricht das lyrische Ich vor allem über eins: sich selbst. All jenen, die bislang noch nicht das Vergnügen hatten, Saul Bellow zu übersetzen oder einen Leseabend in Bremen zugunsten einer Kneipentour sausen zu lassen, müssen diese doch sehr autorenspezifischen Texte über weite Strecken primär wie eine extensive poetische Nabelschau erscheinen; ein ,objective correlative' in Sinne T.S. Eliots, das ihnen eine intersubjektive Allgemeingültigkeit verliehen hätte, sucht man in den meisten der hier versammelten Gedichte leider vergebens.

Ganz anders hingegen die folgenden zehn "Kostproben": Ausgehend von einem C.F. Meyers "Die Veltlinertraube" entliehenen Motto, entfaltet Ahrens seine Gedichte hier als dekadent-bacchantischen Reigen, in dem mythologische Figuren auf das Vokabular von Gourmets und Weinkennern treffen: "Waldbeeren mit der gewissen Würze, / durchsetzt von animalischen Tönen, // Körper zerfleddert von Keilerzähnen, / Gesichter, von Bachen zu Matsch zertreten. // (Diana, Diana, es war nicht Aktaion, / und weshalb die Schweine anstelle der Bracken?) // Wir fliehen die Münder voll Gerberlohe, / auf rebigem Waldweg. Die Sinne schwirren, // bis schließlich das Licht einer Syrinx auftürmt / - Hochhaussiedlung der Flötentöne -, // wo Pan in rülpsender Mittagsschwere / an Fenster klirrt, Gardinen aufzieht // und Schlaf in Zimmer bläst. [...]"

Fast durchgängig überzeugt Ahrens in diesen Gedichten gerade dadurch, dass er sich nicht auf die Schilderungen eines selbstbezogenen lyrischen Ichs beschränkt. Die angekündigte Suche nach den "richtigen Worten" führt ihn dabei, anders als in den Gedichten der ersten Abteilung, auf jene sprachlichen Umwege, durch die die Bedeutung der Texte zwar weniger offensichtlich, dafür aber auch weitaus weniger beliebig wird.

Ausgesprochen humorvoll wiederum kommen die "Die Abenteuer von M. Cauchemare" daher: Der eponyme Held des Zyklus ist ein fünfzigjähriger Lüstling, der eine seiner abendlichen Lektüre entkommene Nymphe an die Heizung fesselt, um sich ihr anschließend unsittlich nähern zu können. Dieses Unterfangen scheitert sowohl an Monsieurs physischer Insuffizienz ("Das Dasein schien ihm eher grauenhaft, / zumal sein Schwänzlein eher kläglich / den Kopf einzog."), als auch am Unwillen der fraglichen Nymphe, die schließlich wieder in ihr Buch entschwindet und einen schwer angetrunkenen Cauchemare seinen Rausch ausschlafen lässt.

In den Folgegedichten kommt es für den derart Verschmähten allerdings noch schlimmer, gebiert er doch zunächst einen Avatar namens "Mr. Nightmare" und wird von diesem - etwas sang- und klanglos - mit einem Rasiermesser ins Jenseits befördert. Die dadurch entstandene poetische Lücke wird allerdings sogleich von einem neuen lyrischen Anti-Helden ausgefüllt, der auf den sprechenden Namen Fellrock hört und anfangs beinah hollywoodreif der Erde entsteigt: "Fellrock lachte. Er sprang aus der Erde, / sein Schatten flog ihm zu, ein Duft / wilder Rosen umgab ihn. ,Fellrock!' // [...]" Der erwähnte Schatten wird dem Akteur bald zum rechten Ärgernis, bis sich beide am Ende in einer epischen Kopulationsszene im wahrsten Sinne des Wortes vereinigen und Fellrock dahin zurückkehrt, woher er gekommen ist: "Fellrock fickte seinen Schatten. / ,Action!', jubilierten Amseln. / ,Eine Damsel in Distress' // Fellrock, schlapp vom Schattenficken/ (Hoden war wie ausgesogen, / Vorhaut spannte, Eichel brannte) // und geknickt von Liebesschwere, / sank auf fette Gartenerde, / die ihn aufsog. / So verschwand er. // Blieb der Schatten, / durchgeschüttelt und entblättert, / stengellos im Licht zurück."

Dass sich Ahrens mit diesen Zeilen die Pole Position in der Geschichte der deutschen Lyrik erschrieben haben könnte, scheint mehr als unwahrscheinlich; doch ist es nicht nur die spätpubertäre Diktion, die einen hierbei nicht an den großen literarischen Wurf denken lässt. Es schleicht sich bei der Lektüre schon bald ein merkwürdiges déja-vu oder eher déja-lu Gefühl ein: Zu sehr gebärden sich Cauchemare und Fellrock wie blasse Avatare der literarischen Schöpfungen Ror Wolfs, um wirklich noch als originell gelten zu können. Oder, um es ebenfalls in Form einer launig-gereimten Spruchweisheit zu sagen: "Getretner Quark wird breit, nicht stark."

Den Ausklang des Bandes bilden nun jene Gedichte, die Ahrens selbst als "Wegmarken einer turbulenten Lebensphase" bezeichnet. Damit sind sie sozusagen biografisch auf Ansage und diesbezüglich skeptische Leser könnten hierbei schon das Schlimmste befürchten. Ganz zu Unrecht allerdings, denn wer in der dritten Abteilung des Bandes bloße Bewältigungslyrik wähnt, wird eines Besseren belehrt. Aller (auto-)biografischen Bezüge zum Trotz gelingt es Ahrens sein Thema - das Ende einer Beziehung und den Beginn einer anderen - nicht nur inhaltlich allgemeingültig, sondern auch sprachlich überraschend zu gestalten. Die scheinbare Normalität einer Familie etwa ("Wir hatten / ein Haus mit Dach, / den Zins getilgt, [...]") wird dabei zur "Space Odyssey": "Verloren gegangen im Kosmos der Küche, / schweben wir zwischen Träne und Schwüren // im rotweindunklen Nichts. Die Sterne / flackern in Teelichthaltern, / die Sonne verglimmt in den Rankenspiralen / der Zimmerpflanze. Wir ringen um Worte, [...] / auf unseren Zungen verfliegen die Sätze, / Kometenstaub, und unsere Blicke // verschwinden alle in Schwarzen Löchern." Wie bereits in den Gedichten des "Kostproben"-Zyklus, so kommt Ahrens auch hier den ,richtigen Wörtern' so nahe, wie sonst kaum an einer anderen Stelle des Buches.

"Kein Schlaf in Sicht" erweist sich damit als Band mit Höhen und Tiefen, der jedoch - entgegen der vollmundigen Verheißungen des Titels - wohl nur den wenigsten Leserinnen und Lesern wirklich den Schlaf rauben wird.


Titelbild

Henning Ahrens: Kein Schlaf in Sicht. Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
90 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783100005250

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