Vor dem Genozid

Willy Cohn schildert den Untergang des Breslauer Judentums

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor mittlerweile zweieinhalb Jahren ließ der Stuttgarter Historiker Norbert Conrads mit einer einzigartigen Veröffentlichung aufhorchen: Er edierte die Tagebücher Willy Cohns, eines Breslauer Mediävisten, der als Jude nach dem 30. Januar 1933 immer weiter in die Mühlen des NS-Regimes geraten war. Conrads' Edition, die mehr als 1.000 Seiten umfasste, deckte den Zeitraum zwischen 1933 und 1941 ab, ließ allerdings auch viel Privates aus Cohns Leben unberücksichtigt. Der 1888 geborene Cohn, der regelmäßig Tagebuch führte, hatte mit 21 Jahren in mittelalterlicher Geschichte promoviert und 1925 eine in Fachkreisen geschätzte Arbeit über die Herrschaft der Hohenstaufen in Sizilien publiziert, die wenige Jahre später ins Italienische übersetzt wurde. Er korrespondierte mit renommierten Historikern wie Ernst Kantorowicz, Karl Hampe und Albert Brackmann, las die "Historische Zeitschrift" und besuchte die im Zwei-Jahres-Rhythmus abgehaltenen Historikertage. 1919 war Cohn als Studienassessor ins Breslauer Johannesgymnasium eingetreten, einer Integrationsschule, deren Kollegium wie Schülerschaft zu je einem Drittel aus Katholiken, Protestanten und Juden bestanden. Aus erster Ehe hatte Cohn zwei Söhne, aus der 1923 geschlossenen zweiten Ehe gingen drei Töchter hervor.

Auf vielfachen Wunsch haben sich Herausgeber und Verlag nunmehr dazu entschlossen, eine Auswahlausgabe der Cohn-Tagebücher vorzulegen, die knapp ein Drittel des Ursprungstextes umfasst und auf der immer noch lieferbaren dritten Auflage basiert. In der vorliegenden Ausgabe sind weder Art noch Umfang der Kürzungen gekennzeichnet, und auch die vorzügliche biografische Einführung des Herausgebers fehlt. Entstanden ist eine Art Lesebuch zur Geschichte der Breslauer Juden nach 1933, das sich offenbar an ein breites Publikum wendet und auf die Benutzung in Schule, Universität und Weiterbildung abzuzielen scheint. Der Ursprungscharakter eines Tagebuches ist nur rudimentär erhalten geblieben, was sich insbesondere in den durch den Herausgeber zu verantwortenden Zwischenüberschriften zeigt. Ganze Serien von Eintragungen sind ausgelassen, darunter diejenigen, in denen Cohn die Misshandlung von Juden durch NS-Schergen beziehungsweise deren systematischen Terror schildert (zum Beispiel 6.2., 3.3., 19.3., 3.4., 5.4., 13.4., 25.4. und 17.8.1933). Viele Tagebucheinträge wurden in sich gekürzt und wichtige Ausführungen ersatzlos gestrichen, ohne dass sich dem Leser die Kriterien, nach denen dies geschah, erschlössen (10.5. oder 16.9.1935). Der "Gewinn an Eindringlichkeit", den sich der Herausgeber davon erhofft, tritt nicht ein. Man kann sich des Verdachtes nicht erwehren, dass diese Auswahledition einem kommerziellen Interesse dient, zumal die ARD für November 2008 eine Dokumentation über Cohns Leben angekündigt hat, die den Verkauf des Tagebuchs sicherlich fördern wird.

Dennoch bleibt das Cohn-Tagebuch auch in der hier vorliegenden zerstückelten Form eine wichtige Quelle für die Geschichte der deutschen Juden unter der NS-Herrschaft. Dies hängt insbesondere mit dem facettenreichen Lebensweg Cohns zusammen, bei dem individuelle und allgemeine Geschichte in der NS-Zeit zusammenfallen. Minutiös schildert Cohn die Diskriminierung der Breslauer Juden in den ersten Wochen und Monaten nach der NS-Machtübernahme, ihre systematische Verdrängung aus den akademischen Berufen (Cohn selbst wurde am 18. Juni 1933 unter Wahrung einer sechswöchigen Frist aus seinem Lehramt beurlaubt) und ihre zunehmende gesellschaftliche Isolation. Cohns Ausführungen zum Judenpogrom am 8. und 9. November 1938 sind besonders eindringlich und zeigen, wie viele "ganz normale Deutsche" diese Gewaltaktion billigten. Nicht allen Ansichten Cohns wird man folgen können, gab er sich doch allzu großen Illusionen über Begrenzungen der antijüdischen Diskriminierung des NS-Staates hin und erkannte die mörderischen Konsequenzen der "Judenevakuierung" nach Osten bis zuletzt nicht. Noch Ende Mai 1941 las er Adolf Hitlers "Mein Kampf" und billigte dem Diktator zu, das Judentum darin "in vielem [...] nicht unrichtig zu charakterisieren". In solchen Äußerungen zeigt sich die Tragik vieler deutscher Juden. Trotz ihrer durchgängigen Entrechtung während der NS-Zeit blieben sie der deutschen Kultur bis zuletzt verbunden und tendierten oftmals dazu, ihre Situation zu rationalisieren.

Cohns Tagebuch ist dennoch aussagekräftiger als viele andere Dokumente zum jüdischen Alltagsleben im NS-Staat, darunter die Aufzeichnungen des Romanisten Viktor Klemperer, der getauft war, in privilegierter Mischehe lebte und sich von religiösen Angelegenheiten fern hielt. Cohn hingegen war ein frommer Jude, der regelmäßig die Synagoge besuchte, häufig Vortragsreisen ins übrige Schlesien, nach Berlin und nach Süd- und Westdeutschland unternahm und dort mit vielen teils hochrangigen Vertretern der deutschen Juden in Kontakt kam. Über deren sich langsam verschlechternde Lebensbedingungen war er gut informiert. Jedoch konnte sich Cohn nicht zur Emigration nach Palästina durchringen, wohin sich seine beiden Söhne und die älteste Tochter in den Jahren 1935 bis 1940 gerettet hatten. Cohn blieb Zeit seines Lebens in Breslau, arbeitete, so lange es ging, in den dortigen Bibliotheken und Archiven und versuchte, seiner Ehefrau und seinen beiden Töchtern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Bis zuletzt gab er die Hoffnung nicht auf. Am 25. November 1941 wurden Cohn, seine Frau Gertrud und ihre beiden neun und drei Jahre alten Töchter Susanne und Tamara ins litauische Kaunas deportiert und vier Tage später ermordet.


Titelbild

Willy Cohn: Kein Recht, nirgends. Breslauer Tagebücher 1933-1941. Eine Auswahl.
Herausgegeben von Norbert Conrads.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
370 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783412201395

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