Jedermanns 1968

Gerd Koenen und Andres Veiel zeigen ein zwiespältiges Jahr 1968

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Jahr 1968 ist nicht das erste historische Ereignis, in dem die modernen Medien, insbesondere aber die Fotografie eine zentrale Rolle spielen. Der Erste Weltkrieg ist ein solches Ereignis, der Zweite kein minderes, Hitlers Posen für seinen Hausfotografen zeigen die Bedeutung des Mediums für die politische Propaganda und Willensbildung, die Retuschen, die die sowjetischen Machthaber an Fotografien vornehmen ließen und bei denen sie in Ungnade gefallene ehemalige Kombattanten einfach aus dem öffentlichen Bewusstsein streichen wollten, bestätigen diesen Eindruck. Diese - teils blutige - Spur des Mediums Fotografie zieht sich durch das 20. Jahrhundert, das damit zu Recht als visuelles Jahrhundert beschrieben werden kann.

Das Jahr 1968 ist, wie die Studentenbewegung insgesamt, für die bundesdeutsche Geschichte prägend. Entsprechend umfangreich und vielfältig ist das Bildmaterial, das mit den späten 1960er-Jahren verbunden wird. Christa Ritter und Rainer Langhans haben das mit ihrem "Bilderbuch der Kommune I" ebenso vorgeführt wie das Historische Museum der Stadt Frankfurt am Main mit Ausstellung und Katalog. Die Studentenbewegung ist eng mit ihrer fotografischen Repräsentation verknüpft. Es sind vor allem Fotos, die die Erinnerung lebendig halten. Andere Medien wie Dokumentationen, Abhandlungen oder Erinnerungen nehmen immer wieder Bezug auf die Ikonografie der Bewegung, in einer Weise, die die enge, wenn nicht untrennbare Verbindung von Bild und Bedeutung betont.

Auffallend ist dabei, dass es zwar ein Bildprogramm der 68er gibt. In diesem Programm sind aber die einzelnen Bilder nicht festgelegt, Varianten sind zulässig. In den jeweiligen Dokumentationen, die in diesem Jahr auf den Markt gekommen sind, entsteht dabei ein Gesamtbild, das in sich weitgehend geschlossen ist. Dass die Kommune I im von Gerd Koenen und Andres Veiel herausgegebenen Bildband mit einem Foto vom Auszug aus der Niedstraße eingeführt werden und nicht etwa mit dem berühmten Foto, auf dem sie nackt mit dem Rücken zum Fotografen zu sehen sind, ändert nichts daran, dass es vor allem darum ging, die Kommune vorzuführen und nicht das eine und einzige Kommune-Foto, das als Ikone verstanden werden kann. Ähnlich sieht es mit dem Foto von Gudrun Ensslin und Andreas Baader aus, das die beiden Flüchtlinge in Paris zeigt. Oder mit dem Roten Dany in Frankreich (das immerhin sehr bekannt ist), mit Rudi Dutschke auf den verschiedenen Veranstaltungen des Jahres 1967 oder 1968, dem Fahrrad Rudi Dutschkes, das am Ort des Attentats Josef Bachmanns zurückgeblieben ist, dem sterbenden Benno Ohnesorg oder den persischen Geheimdienstlern, die am 2. Juni 1967 auf protestierende Berliner Studenten einprügelten. Es sind mögliche Fotos, die zum Bildprogramm der Personen und Ereignisse gehören, oft aber nicht die bekanntesten Fotos dieser Szenen und Ereignisse.

Dabei sind in Einzelfällen durchaus die fotografischen Ikonen des Jahres 68 zu sehen: Rudi Dutschke als Coverboy der Zeitschrift "Capital" (mit Mantel und dem Marx'schen Kapital in der Hand) oder Herbert Marcuse im Audimax der Freien Universität Berlin sind dafür Beispiele.

Veiel begründet die Auswahl mit dem einen Foto von hundert, das den optimalen Ausschnitt zeige. Dieser Ausschnitt aber habe es geboten, gerade dieses Fotos auszuwählen und eben kein anderes. Ohne die Seriosität der Auswahl im Einzelfall anzweifeln zu wollen, wird man allerdings wohl nicht fehl in der Annahme gehen, dass es hier vor allem um das Gesamtprogramm ging, um die Präsentation einer Bildstrecke, anhand der es gelingen sollte, das Ereignis 68 in seiner Gänze vorzustellen und zu charakterisieren.

Und das ist im Wesentlichen gelungen. Dabei sind die Fotos nicht unabhängig von ihren Kommentaren zu sehen. Veiel und Koenen versehen jedes Foto mit einer Legende, mit der es in das Darstellungsprogramm jenes Jahres eingebunden werden kann. Insgesamt haben sie sich zudem nicht auf das Jahr 68 beschränkt, sondern versucht, die Ereignisse dieses Jahres in die Chronologie einer Gesamtentwicklung eines Jahrzehnts einzupassen und damit auch zu begründen. Sie beziehen dabei auch das politische, soziale und kulturelle Gesamtfeld ein, zeigen dabei den Bundesaußenminister Willi Brandt auf dem Bundespresseball 1968, den Altkanzler Ludwig Ehrhardt in seiner Limousine, die von Demonstranten mit Eiern beworfen wird, Finanzminister Franz Josef Strauß bei einer Brotzeit, Kanzler Kurt Georg Kiesinger zu Gast beim greisen spanischen Diktator Francisco Franco. Hinzu kommen Fotos von Heintje und Jimi Hendrix, ein Bild aus "Easy Rider", vom Black-Panther-Gruß amerikanischer Leichtathleten bei den Olympischen Spielen 1968 oder von tanzenden Buchhändlern. Dabei haben sie sich zudem nicht auf die Bundesrepublik beschränkt, sondern auch Frankreich, die CSSR, die USA und Vietnam eingebunden.

Die Einführung von Gerd Koenen gibt (aus der Perspektive des Zeitgenossen, Teilnehmers und Generalinterpreten) den Paratext zu den Fotos. Koenen, der als "der Geschichtsschreiber der bundesdeutschen und internationalen Linken" vorgestellt wird, gibt der Darstellung allerdings eine spezifische Note. Seine Geschichte der 68er ist nicht nur die eines der entscheidenden Jahre in der bundesdeutschen Geschichte, die nicht nur einzubetten ist in ein Gesamtensemble einer sich rasch verändernden Gesellschaft, über deren Tabus und blinde Flecke wir heute vielleicht lächeln (auch wenn die bundesdeutsche Gesellschaft einige mit ihrer Vorgängerin teilt). Er betont zudem die Widersprüchlichkeit der "Bewegung": ihre Stilisierungen, ihre Heiligen, die Faszination von Gewalt und die Blindheit ihrer Teilnehmer, die von der Weltrevolution sprachen, ohne sich der Begrenztheit ihrer Einblicke in die faktischen internationalen Prozesse und deren Wirkung klar zu werden. Dass mit dem Jahr 68 zugleich jedoch eine Gesellschaftsform entstand respektive mindestens weiterentwickelt wurde, in der Politik und Ökonomie unter verstärkten Rechtfertigungszwang gerieten, damit eine Zivilgesellschaft mit vorbereitet wurde, bleibt dabei ein wenig auf der Strecke. Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Einleitung und bei diesem Band insgesamt um eine spezifische Interpretation, was spätestens dann klar wird, wenn man hinzunimmt, dass Koenen und Veiel die RAF arg eng an die 68er anschließen, ohne die Differenz ausreichend herauszustellen. Es scheint, als ob die beiden Herausgeber damit die These, dass die Studentenbewegung die RAF notwendig erzeugt habe, betonen und nicht lediglich die chronologische Abfolge dokumentieren wollen. Das aber ist eine der Kernfragen, an der die Bewertung der 68er bis heute hängt. Jeder der damaligen Beteiligten beantwortet diese Frage anders.


Titelbild

Gerd Koenen / Andres Veiel: 1968. Bildspur eines Jahres.
Fotos von Andreas Veiel.
Fackelträger Verlag, Köln 2008.
192 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783771643591

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