Von der Mauer, die man vom Mond nicht sieht, den vielen Völkern und einer jahrtausendealten Kultur

Drei Bildbände berichten über China

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das können normale Knie überhaupt nicht aushalten. Einen Marathon, schön und gut, das kriegt man noch hin. Aber ein Marathon, bei dem nur drei Kilometer des Weges schon über 3.600 Stufen führen, die meist in einem Winkel von 45 Grad nach oben führen - das ist mörderisch. In China gibt es so einen Wettlauf, der seit dem Jahr 2000 jedes Frühjahr stattfindet. Beim Huangyaguan-Abschnitt der großen Chinesischen Mauer geht es derart athletisch zu. Vier Stunden dauert der ganze Marathonlauf - in Boston und New York kommen die ersten Läufer schon nach zwei Stunden ans Ziel. Diesen steilen Abschnitt nehmen die meisten ganz gemächlich, eher im Gehen, mit vielen Pausen. Die chinesische Mauer ist ein Weltwunder, auch wenn sie vom Mond aus nicht zu sehen ist, wie die Legende immer behauptet, und nicht nur eine Mauer ist oder war, sondern ein ganzes System von unterschiedlichen Befestigungswällen. Mal aus gestampftem Lehm mit Stroh, mal aus gebrannten Ziegeln. Mal voll mit Menschen, wie in der Nähe von Peking, mal voller einsamer Poesie und halbverfallen wie in Simatai, Jinshanling oder Jiankou, wo die Steine der Mauerkrone herunterfallen, die Stufen lose sind, die Türme verrotten: "Wilde Mauer" wird sie genannt. Der Fotograf Michael Yamashita und der Autor William Lindesay haben die chinesische Mauer von der koreanischen Grenze bis an ihr westliche Ende an der Taklamakan bereist, einmal quer durch das Land. Sie sahen Lehrerchöre vor einem imposanten Torturm, Fischer, die über den überfluteten Mauern angeln, Touristen und Löwen, Häuser, die sich an die Mauer lehnen oder direkt in sie hineingebaut sind. Mongolische Reiter, Heilkräuterbauern, die noch selbst den Pflug ziehen, Hirten und Mauerreste, vom Wüstensand fast vergraben. Es ist immer noch ein Erlebnis, ein einzigartiges Bauwerk, ein Stück China in all seinen Widersprüchen. Und ein verblüffendes, facettenreiches, buntes, widersprüchliches Buch voller Fakten und Atmosphäre.

Yann Laymas opulenter Bildband geht noch etwas mehr ins Detail. Er zeigt Nahaufnahmen des chinesischen Alltags: einen Anzugträger, der telefonierend durch eine Reihe von blauen, braunen, orangen und dunkelgrünen Säulen geht, einen Handwerker, der sich akrobatisch verrenken muss, um ein paar Schnüre über ein Bambusgestell hochhieven zu können, die alten, warmen brillenbewehrten Augen eines Mannes, zwei hüpfseilspielende Kinder vor einem trostlosen Ein-Kind-Propagandaplakat, einen meditierenden Taoisten auf einem Stein in einem Fluss, ärmliche Kormoranfischer und eine Riege von huttragenden Politikern, marschierende Soldaten in leuchtendem Blau und Fensterputzer, die scheinbar aus dem Nichts herunterhängen und sich an einer spiegelglatten Fassade abmühen. Die Bilder sind von einer perfekten, verblüffenden und glänzenden Großartigkeit, aber sie sind gleichzeitig auch sehr distanziert. Übergangslos und in gelungenem Kontrast zeigt Layma glänzende Reisterrassen neben schlotigen Industrieanlagen, ärmliche Bauern neben Neureichen, das alte, etwas düstere, kommunistische China neben dem neuen glitzernd kapitalistischen, das archaisch bäuerliche neben dem aufbruchsfrohen modernen. Kleine Texte von Chinakennern in allerdings winziger Schrift geben dabei zusätzlich auch ein kleines literarisches Porträt des riesigen Landes.

Das Buch von Alison Bailey hingegen ist nur ein halber Bildband, denn er hat sehr viel Text. Und darum entgeht er auch der Falle so vieler anderer Bildbände, etwas nichtssagend allgemein zu werden. Schöne Aufnahmen, ausdrucksstarke Gesichter, imposante Landschaften - das alles hat dieses Buch auch. Aber es bettet die Bilder zumeist in eine Geschichte ein. Vor allem im Teil "Menschen - Ein Tag im Leben", in dem jeweils einem Chinesen eine ganze Text- und Fotoreportage gewidmet ist. So begleiten wir den Bauern Chang Hanlin im Lösstal des ländlichen Shaanxi vom morgendlichen Hoffegen über das Familienfrühstück und das Mauleselfüttern bis zur Hausaufgabenzeit und der Dorfhochzeit am Abend. Wir sehen den Kalligrafen in Beijing, wie er morgens Taiji übt, den richtigen Pinsel wählt, in der Galerie und in der Kunstakademie Gespräche führt und zu Hause, nach einer Stunde Busfahrt, zu Abend isst. Wir beobachten den Instrumentbauer Ababakri Selay in Kashgar, wie er seine Instrumente behandelt, sorgfältig und zärtlich über das Holz streichelt, wie er im Teehaus spielt und mit seinem Freund mit dem Lasten-Mofa nach Hause fährt. Es sind diese kleinen Geschichten, die China lebendig machen, wie es keiner der anderen Bildbände vermag. Abgerundet wird dieses schöne und gelungene Kapitel durch ausführliche und ebenso opulent bebilderte Texte über die Geschichte und Kultur Japans, KungFu und Figurentheater, die typische Architektur der chinesischen Häuser, die modernen Hochhäuser, Hotelpaläste, Buddhastatuen und prachtvollen Moscheen, über die Fünf Elemente-Theorie und den Gelben Kaiser, die Pekingoper und den Gelehrtenwald. Von allen drei Bildbänden geht dieser am tiefsten und auch menschlichsten auf die gelebten Traditionen und die aufbrechende Nation ein.


Titelbild

Yann Layma: China.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Plorin.
Knesebeck Verlag, München 2008.
416 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783896605528

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Alison Bailey / Ronald Knapp / Peter Neville-Hadley / Nancy S. Steinhardt / J A Roberts: China. Menschen Landschaft Kultur Geschichte.
Übersetzt aus dem Englischen von Dr. Klaus Binder, Marita Böhm, Angelika Feilhauer und Annette Wiethüchter.
Dorling Kindersley Verlag, München 2008.
360 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783831011636

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Lindesay William / Michael Yamashita: Die Chinesische Mauer. Geschichte und Gegenwart eines Weltwunders.
Übersetzt aus dem Englischen von Angelika Feilhauer.
Knesebeck Verlag, München 2008.
160 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783896605269

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch