Schimanski for ever!

Mit seinem Roman "Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr Armee" leistet Jürgen Link einen Beitrag zur Denkmalwürdigkeit der '68er

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 13. März 1920 putschten rechtsgerichtete Freikorpsverbände gegen die Regierung der Weimarer Republik. Dieser nach ihren Führern Kapp-Lütwitz benannte Umsturzversuch wurde zu einer ernsten Gefahr für die aus Berlin in die Provinz geflohene Reichsregierung. Die Reichswehr verweigerte sich, da sie gegen ,die Kameraden' in den Reihen der Putschisten nicht vorgehen wollte. Die Rettung kam von links. Ein Generalstreik legte das öffentliche Leben lahm und isolierte schließlich die Putschisten. Nach vier Tagen war der Spuk vorbei. Nun aber sah sich die Regierung von links bedroht. Teile der Arbeiterschaft erkannten die Chance zum revolutionären Umsturz. Im Ruhrgebiet hatte sich eine ,Rote Ruhr Armee' zusammengeschlossen. Binnen kurzer Frist gelang es der knapp 50.000 Mann starken Truppe, unter denen viele ,kriegserfahrene' Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs waren, das gesamte Ruhrgebiet unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieser so genannte "Ruhraufstand", auch "Märzrevolution" bezeichnet, aktualisierte das Schreckgespenst der proletarischen Revolution. Nun war auch die Reichswehr bereit, gegen ,Kameraden' einzuschreiten. Anfang April rückten ihre Einheiten ins Ruhrgebiet vor und der Aufstand der Arbeiter wurde mit brutaler Konsequenz niedergeschlagen. Der Kampf kostete über 1.000 Arbeiter das Leben.

Geblieben ist ein Mythos: Während für die einen die ,Rote Ruhr Armee' als Inbegriff des kommunistisch gesteuerten revolutionären Chaos galt, idealisierten die anderen die ,Ruhr Armee' zu einem - freilich missglückten - letzten Versuch, der deutschen Geschichte einen anderen, einen ,besseren' Verlauf zu geben.

Kein Wunder, dass die ,Rote Ruhr' auch in den Gedankenspielen einer seit den 1960er-Jahren sich zunehmend politisierenden Jugend eine Rolle spielte. Deren Geschichte im Ruhrgebiet erzählt Jürgen Link in seinem über 900 Seiten starken Roman "Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr Armee". Der Literaturwissenschaftler, der bis zu seiner Emeritierung in Bochum und Dortmund lehrte, begibt sich mit seiner Darstellung vom politischen Aufbruch der so genannten '68er im Ruhrgebiet zugleich auch auf die Suche nach der von Mythen verklärten Landschaft. Eine Region, deren Bewohner noch am ehesten die Ideale einer Arbeiterkultur zu verkörpern scheinen, die als Verheißung auf eine bessere, gerechtere Welt präsent ist. Zu den Traditionen dieser Kultur gehört die ,Rote Ruhr Armee' ebenso wie der unkonventionelle, aber grundehrliche Schimanski-Typus. Beiden ist eins gemein: Es umweht sie das melancholische Flair der Vergeblichkeit. Kein grandioses Scheitern, eher ein immer wieder gegen alle Rückschläge behauptetes neues stolzes Aufstehen.

Der Idealtypus Ruhrgebiet ist längst eine Marke, ein Fundus, aus dem sich die Kulturhauptstadt Europa bedienen kann. Er taugt aber kaum zur Bewältigung realer gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen. Die Geschichte der "ursprünglichen Chaoten", die Link erzählt, ist - wie so viele andere '68er-Geschichten auch - die typische Geschichte eines ungestümen politischen Aufbruchs zur "vollständigen Demokratie", der auch deshalb zerfällt, weil er keine angemessenen Vorstellungen von der ihn umgebenden gesellschaftlichen Realität hat. Die Diskussions-, Liebes- und Lebensexperimente der ,Chaoten' scheinen in den während der 1960er- und 1970er-Jahren noch inmitten einer Industrielandschaft liegenden Schrebergärten zwar ,mitten in der Gesellschaft' angesiedelt zu sein. In Wirklichkeit aber ist dieses Schrebergartenidyll kein Labor für gesellschaftspolitische Aufbruchstrategien, sondern eine wirklichkeitsabgewandte Nische. Eine angenehme, gemütliche Ecke, deren Verlust eine wehe melancholische Erinnerung aufkommen lässt, die in Links Roman denn auch immer zu spüren ist. Ja, in den "Gärten" bei den "Radeldas" (kommt von ,die mit dem Rad da sind') und deren Frauen ließ sich gut leben und der Widerstand gegen die "V-Träger" (Verantwortungsträger: "Du trägst den T-Träger und ich die Verantwortung!") konzipieren. Und zuweilen fand sich unter den Bewohnern dort auch noch ein echter Zeitzeuge, einer, der in der ,Roten Ruhr Armee' dabei war. Welche Wonne, gelegentlich nur gestört durch die Querelen mit den Funktionären der unterschiedlichen "Vereinleins", der Parteien, in die die Bewegung zersplitterte. Ein wenig verstört die naive Unbedarftheit, mit der die Protagonisten zur Weltverbesserung aufbrachen und man fragt sich: hat da keiner was gemerkt?

Link verfasst seinen Roman als kollektive Erinnerung. Konsequenterweise spricht ein "Wir". Es gibt kein "Ich". Diese Erzählhaltung übernimmt ein zentrales konzeptionelles Selbstverständnis der ,Chaoten'. Das ist konsequent, insofern sie eine bestimmte Lern- und Lebensphase ,dokumentiert'. Zudem würdigt die Erzählhaltung das gesellschaftspolitische Experiment eines kollektiven Lebensverständnisses der Protagonisten. Doch erlaubt die kollektive Erzählhaltung keine individuelle Entwicklung. So zwingt die alte, ehemals experimentelle Form dem Roman etwas seltsam Statisches, geradezu Museales auf. Da keine einzelne Person im Kontext ihrer kollektiven Verortung wahrnehmbar wird, erlahmt schließlich das Interesse an allen. Als Roman verhindert das Buch ein zentrales Motiv eines jeden Lesers: die Neugier auf das Schicksal seiner Personen.

Der Roman nennt sich "eine Vorerinnerung". Diese etwas angestrengt anmutende Bezeichnung erhält ihre Berechtigung unter anderem aus den "Zwillingsgeschichten". Diese in den Romantext als Originaldokumente eingebetteten Texte sind Zukunftssimulationen aus der Erzählzeit des Romans. Sie reichen bis in das Jahr 2001. Als authentische Dokumente, wiedergegeben in ihrer einstmals revolutionären Kleinschreibung, erinnern sie an die Zukunftserwartungen der damaligen Zeitgenossen. Sie sind durchaus der Erinnerung wert: Ihr unkonventioneller, von euphorischer Theoriefreude geprägter Duktus gibt ihnen eine eigenwillige literarische Qualität, die als Kennzeichen des damaligen emanzipatorischen Anspruchs wahrzunehmen sind. Über diesen dokumentarischen Effekt hinaus aber repräsentieren die "Zwillingsgeschichten" das Dilemma des Gesamtromans: er erscheint als großangelegter Versuch, die Geschichte von damals im Gestus und mit den Mitteln von damals zu schreiben, so als seien sie heute noch von Relevanz. Wenn zum Ende hin die ehemaligen ,Chaoten' sich in der übriggebliebenen Stadtlandschaft des Ruhrgebiets auf die Suche nach standesgemäßen Immobilien für ihr altersgerechtes "Clanprojekt" begeben, dann schwingt da zwar bedeutungsschwer noch die große Theorie mit, doch am Ende ist auch dieses Projekt nurmehr eine weitere privatistische Normalität. So sympathisch die Konsequenz dieser Alt-'68er einerseits erscheint, mit der sie ihre Lebensrealität theoretisch zu untermauern wissen, so tragisch-komisch mutet an, dass gerade diese Theorielastigkeit sie ins Abseits führte und eine ungewollte Denkmalwürdigkeit begründet. Ironie der Geschichte, oder: Schminanski for ever!


Titelbild

Jürgen Link: Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung. Roman.
assoverlag, Oberhausen 2008.
922 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783938834299

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