Konjunktur eines Plastikworts

Florian Huber untersucht in "Durch Lesen sich selbst verstehen", wie Identität in literarischen Texten verhandelt wird

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Identität gilt als so genanntes "Plastikwort" (Uwe Pörksen). Nachdem man sich in den 1970er- und 1980er-Jahren viel damit beschäftigt hat, wird der Begriff oftmals als beliebig, aussagelos und daher obsolet abgetan. Andererseits ist eine neue Konjunktur dieses Begriffs festzustellen, der nicht so leicht totzukriegen ist, wie es manche vielleicht meinen. Ernstgenommen wird der Identitätsbegriff besonders von Sozialpsychologen, so beschäftigt sich eine Gruppe um Heiner Keupp im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs in München mit Identitätskonstruktionen und Identitätsmodellen. Sie hat bereits in renommierten Verlagen wie Suhrkamp und Rowohlt einige grundlegende Publikationen hervorgebracht. Auch die im Bielefelder transcript-Verlag erschienene Dissertation von Florian Huber zum "Verhältnis von Literatur und Identitätsbildung" ist dieser Münchner Gruppe zu verdanken. Damit schließt Huber eine Lücke, die - soweit vom Rezensenten erkennbar - von der Literaturwissenschaft noch nicht einmal wahrgenommen wurde.

Das erste Großkapitel ist den erwähnten grundlegenden, bereits publizierten Arbeiten der Gruppe verpflichtet, es geht um die "Diskursarena Identität", um das prozessuale Aushandeln von Identität, die nicht einfach gegeben ist, sondern in sich verändernden Kontexten beständig neu hergestellt werden muss - daher spricht man heute von "Identitätsarbeit". Anders als früher stehen nicht mehr "Identitätspakete" oder "Identitätsbausätze" (Begriffe nach Keupp) zur Verfügung: "Das postmoderne Subjekt muss also zunächst lernen[,] die Wahlmöglichkeiten auszuhalten." Es muss sich zwischen verschiedenen Wahlmöglichkeiten entscheiden und auf diese Weise positionieren. Da diese Wahlmöglichkeiten nicht mehr per se, sondern abhängig von der Wahrnehmung besser oder schlechter sind - oder vielmehr zu sein scheinen - hat das Individuum einerseits mehr Möglichkeiten, die andererseits aber mit dem Risiko der Fehlentscheidung verbunden sind.

Individuelle und kollektive Identität bedingen sich gegenseitig, das Ich ist nichts ohne die Anderen, das Kollektiv nichts ohne das an ihm teilhabende Individuum. Die Brücke vom Individuum zur Literatur lässt sich über das Erzählen schlagen, denn wenn Identität diskursiv hergestellt wird, dann sind diese Diskurse kommunikativ hergestellte Narrationen. Besonders einsichtig wird dies bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, deren einzelne Erinnerungsbausteine gern rückblickend zu einem Sinnzusammenhang geordnet und gegebenenfalls in einen Rahmen eingepasst, also entsprechend umgearbeitet werden - Huber verwendet den Begriff der "narrativen Identität" und spricht von "Geschichte als sinnvolles Arrangement einzelner Episoden". Die Parallelen zum Konstruktionsprozess literarischer Texte liegen auf der Hand.

"Die Rezeption von Literatur ist eine von vielen Situationen, in denen Subjekte ihre persönliche Geschichte vor einem 'imaginären Publikum' verhandeln. Gleichzeitig ist sie im Hinblick darauf, dass Identität narrativ konstruiert wird, eine der bedeutendsten." Literarische Texte können als mögliche "Drehbücher" für eigene Ich-Entwürfe gesehen werden. Für Huber ist mit der so erfolgenden "Übertragung eines Schemas" ein "Erkenntnisfortschritt" verbunden. Das muss freilich nicht immer so sein; affirmativ rezipierte Literatur dient nicht neuen Einsichten, sondern der Bestätigung der bisherigen.

Bei der hier entwickelten kleinen Lesetheorie stützt sich Huber vor allem auf Wolfgang Isers Buch "Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung", also auf einen Klassiker der Rezeptionsästhetik. Huber unterscheidet weiter zwischen "offenen und geschlossenen narrativen Formen", also danach, ob Texte deutungsoffen genug sind, um die angesprochene "Übertragung" auf und damit Anpassung an die eigenen Verhältnisse zu erlauben. Auf der abstrakten Ebene funktioniert diese Argumentation ganz gut, allerdings ist das Problem der Rezeption, dass Deutungsoffenheit allein als Kriterium für die reflexive Qualität von Texten nicht ausreicht. Ein Heftchenroman ist einerseits außerordentlich deutungsoffen, etwa in der Figurencharakterisierung, andererseits arbeitet er mit zahlreichen Stereotypen, die eine Lektüre normieren.

Der eigentliche Hauptteil von Hubers Arbeit ist die Auswertung einer empirischen Untersuchung - eine qualitative Erhebung in Form von Interviews. Die elf Interviewpartner wurden durch einen "Kontaktflyer" gefunden, der in Buchhandlungen und Bibliotheken in der bayerischen Landeshauptstadt sowie südöstlich und südlich von München ausgelegt wurde. Gefragt waren Bücher, die ihre Leser "sinnstiftend berührt" haben - eine Formulierung, die auf Identifikation und nicht auf Reflexion angelegt ist. Hier offenbaren sich die unterschiedlichen Interessen von Sozialpsychologie und Literaturwissenschaft; ersterer geht es um die Entwicklung der Interviewten, letztere hätte mehr Gewicht auf die im Text angelegten Interpretationen und das Verhältnis zu ihren Aktualisierungen gelegt. Da das gesamte (auf neudeutsch) "Studiendesign" offengelegt wird, ist es möglich, solche Differenzen zu formulieren.

Literatur funktioniert, so stellt sich an den Beispielen heraus, "als stille Verhandlungsbrücke zwischen personaler und sozialer Identität", wobei sie oftmals eine Trostfunktion zugewiesen bekommt. Es hilft schon, wenn man sich mit den Lebensentwürfen der Protagonisten identifizieren kann, selbst wenn sich im eigenen Leben diese Entwürfe nicht verwirklichen lassen. Auch eine Bestätigungs- und Entschuldigungsfunktion lässt sich erkennen - eine Frau, die ihren Mann betrügt, sieht eine vergleichbare Konstellation in einem bekannten Roman verwirklicht.

Hubers Studie ist eine instruktive und uneingeschränkt zu empfehlende Lektüre, ihre Grenzen findet sie verständlicherweise, wenn es um die Spezifika literarischer Texte geht (so verwundert es nicht, dass Hemingways Name falsch geschrieben wird). Die Literaturwissenschaft hätte die Gelegenheit und, angesichts der wieder gewachsenen Beachtung von Prozessen der Identitätskonstruktion, die Aufgabe, hier anzuknüpfen und rezeptionsästhetische Perspektiven weiterzuentwickeln, die der Komplexität literarischer Kommunikation Rechnung tragen. Der letzte Satz von Hubers Buch, "Identität ist eben eine Reise und kein Ort", basiert auf einem Zitat von Sten Nadolny und lässt sich breiter fassen; auch der Erkenntnisprozess über Identitätsbildung ist eine Reise, die noch viele interessante Stationen haben wird.


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Florian Huber: Durch Lesen sich selbst verstehen. Zum Verhältnis von Literatur und Identitätsbildung.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
246 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783899428278

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