Klassenkampf ade

Gisela Elsners nachgelassener Roman "Otto der Großaktionär" schildert den sozialen Abstieg eines Arbeiters

Von Markus WiefarnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Wiefarn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Mitte der 1980er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts machte sich Günter Wallraff noch einmal auf die beschwerliche Reise nach "Ganz unten", in jenes Schattenreich der miesen Maloche und der lausigen Löhne, das er für seine Industriereportagen schon zwanzig Jahre früher erkundet hatte. Seine haarsträubenden Erfahrungen, die er in der eigens angenommenen Identität des ,Gastarbeiters' Ali Levent über zwei Jahre hinweg in den sweatshops der BRD sammelte und anschließend mit Hilfe von Ghostwritern in Buchform brachte, bescherten ihm nicht nur mehrere Prozesse mit seinen einstigen Arbeitgebern, sondern auch einen spektakulären Bestseller, der bis heute über vier Millionen Mal verkauft wurde.

Wie sich nun herausstellte, muss sich etwa zur selben Zeit und vielleicht sogar unmittelbar angeregt durch Wallraffs Sensationserfolg auch Gisela Elsner, die mit ihrer 1964 erschienenen Spießbürgergroteske "Die Riesenzwerge" ein Aufsehen erregendes Debüt gefeiert hatte, dazu entschlossen haben, die Abgründe der industriellen Arbeitswelt zum Thema eines Buches zu machen: "Otto der Großaktionär" lautet der Titel ihres Romans, der anders als die Berichte Wallraffs für lange Zeit in der Schublade verschwand und erst jetzt als Teil des literarischen Nachlasses der 1992 freiwillig aus dem Leben geschiedenen Autorin erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, wofür der Herausgeberin Christine Künzel und dem Verbrecher Verlag in jedem Fall zu danken ist.

In vielen Aspekten kann man Elsners Werk als eine Art fiktives Gegenstück zu den Reportagen aus "Ganz unten" betrachten. Erzählt wird in satirischer Weise die Geschichte des Arbeiters Otto Rölz, der sich sein spärliches Auskommen in einer Ungeziefervertilgungsmittelfabrik verdienen muss. Die verheerenden Arbeitsbedingungen, die keinen Schutz der einfachen Beschäftigten vor den gefährlichen Giftstoffen vorsehen, ruinieren allmählich seine Gesundheit. Als die Produktion eingeschränkt werden muss, weil die Gifte zwar Rölz und seine Kollegen, aber nicht mehr das Ungeziefer effektiv zugrunde richten, gesellen sich zu den gesundheitlichen Problemen noch finanzielle Engpässe. Rölz sieht seinen letzten Ausweg darin, sich seinem Arbeitgeber, der im Auftrag des Innenministeriums sein unverkäufliches Gift zu chemischen Kampfstoffen gegen Menschen umfunktioniert, als Versuchsperson zur Verfügung zu stellen. Doch auch dieser verzweifelte Schritt ist nur ein weiterer auf dem unaufhaltsamen Abstieg des Otto Rölz, der nach seiner Entlassung schließlich gänzlich rat- und mittellos beim Arbeitsamt landet.

Dass sich Gisela Elsner, die Tochter eines Vorstandsmitglieds der Siemens AG, das Schicksal eines Industriearbeiters zum literarischen Sujet wählte, entbehrt nicht einer gewissen Brisanz. Die Frage, wer legitimerweise als Verfasser einer wirklichkeitsnahen Literatur der Arbeitswelt gelten könne, hatte 1970 immerhin zur Abspaltung des "Werkkreises Literatur der Arbeitswelt" von der etablierten Dortmunder "Gruppe 61" geführt. Heftig gestritten wurde in den damaligen Auseinandersetzungen vor allem darüber, ob nicht anstelle professioneller (bürgerlicher) Autoren, die das Thema der industriellen Arbeit überhaupt erst für die Literatur erschließen wollten, vielmehr die Arbeiter selbst als unmittelbar Betroffene über ihre eigene Situation schreiben sollten. Autoren ohne einen persönlichen proletarischen Hintergrund, die sich mit den Zuständen in Zechen und Fabriken auseinandersetzten, konnten in den Augen der radikaleren Anhänger des Werkkreises (denen das langjährige DKP-Mitglied Gisela Elsner politisch durchaus nahe gestanden haben dürfte) schnell in den Verdacht geraten, mit ihren Texten lediglich das Interesse eines bürgerlichen Voyeurismus beziehungsweise eines allenfalls karitativ wirkenden Mitgefühls befriedigen zu wollen.

Es wäre jedoch zu einfach, die offensichtlichen Schwächen von "Otto der Großaktionär" vorwiegend auf die mangelnde persönliche Milieukenntnis der großbürgerlich sozialisierten Verfasserin zu schieben. Gisela Elsner zeigt sich in ihrer Geschichte durchaus vertraut mit den abgelegenen Schauplätzen proletarischer Existenz, seien es nun die trüben Fabrikhallen, in denen tagsüber die Schufterei kein Ende zu nehmen scheint, oder jene kaum heitereren Stehausschänke, in denen am Abend das mühsam erworbene Geld gleich wieder auf dem Tresen zurückgelassen wird. Jedoch gleiten ihre Figuren in der satirischen Überzeichnung zumeist in Klischees ab: Die Direktoren sind in der Regel gierig und verlogen, die mittleren Angestellten durch die Bank Schleimer und Sadisten und die Arbeiter sowieso allesamt dumpf und unbeholfen. Dieser ausgeprägte Hang zum Schablonenhaften (der bei der Beschreibung eines wunderlichen Personalchefs selbst vor homophoben Stereotypen nicht zurückschreckt) lässt die Konflikte zwischen den einzelnen Figuren schnell vorhersehbar und die Dialoge nicht selten hölzern werden, wozu der bestenfalls halbherzig zu nennende bayerische Dialekt, der den Arbeitern von der Autorin in den Mund gelegt wird, sein Übriges beiträgt.

Zugute halten muss man dem Roman hingegen, dass sich in ihm der bittere Spott nahezu gleichmäßig über alle Figuren ergießt. Jene positiven Arbeiterhelden etwa, die als ideologische Musterknaben einstmals kolonnenweise durch die programmkonformen Werke des Sozialistischen Realismus marschierten, wird man in Gisela Elsners Buch nirgendwo antreffen. Ihr Protagonist Otto Rölz ist nichts weniger als ein klassenbewusster Revolutionär. Dass er Arbeiter ist, sagt ihm höchstens sein Lohnzettel, nicht aber sein Selbstverständnis. Als stolzer Besitzer von lächerlichen fünf Aktien desjenigen Unternehmens, das ihn selbst unablässig ausbeutet, fühlt er sich als privilegierter Großaktionär, der endlich den ersehnten Anschluss ans Bürgertum und dessen Lebensstil gefunden hat. Als sich dann im Zuge seines beruflichen Abstiegs der prekäre Wohlstand zunehmend in Luft auflöst, führt ihn auch diese Erfahrung keineswegs dazu, dies der Rücksichtslosigkeit des kapitalistischen Systems zuzuschreiben: "Ich frag mich bloß, wovon sie uns Arbeiter eigentlich befrein will", lautet bezeichnenderweise sein verständnisloser Kommentar, als die rebellische Tochter des Firmendirektors, in der man ein ironisches Selbstporträt der Autorin erkennen kann, ihn und seine Kollegen mit agitatorischen Flugblättern gegen die Machenschaften des Unternehmens aufbringen will.

Wollte die in den 1960er- und 1970er-Jahren florierende Literatur der Arbeitswelt durch die Schilderung von sozialen Missständen und Konflikten noch ihr Scherflein zur politischen Mobilisierung und Emanzipation der Arbeiterschaft beitragen, so liest sich "Otto der Großaktionär" vielmehr als das Dokument einer umfassenden politischen Desillusionierung. Gisela Elsners vom Leben gebeutelter Arbeiter entwickelt sich keineswegs zum handlungsmächtigen Subjekt der Geschichte, wie es die Marxistische Theorie voraussagte, sondern erlebt sich nur noch als ein hilfloses Objekt der Geschichte, das vor dem Werkstor steht wie das Kaninchen vor der Schlange. Mit dieser fatalistischen Resignation scheint er geradezu ein frühes Beispiel für die von dem britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch in seiner Studie "Postdemokratie" unlängst diagnostizierte fatale "Unfähigkeit sozio-ökonomisch schwacher Gruppen der post-industriellen Gesellschaft, für sich selber eine politische Agenda zu definieren".

Aus dieser Perspektive betrachtet wirkt Gisela Elsners Roman wie ein Sinnbild für die weitgehende politische Paralyse einer ganzen sozialen Klasse, deren kollektives Auftreten die bürgerlichen Schichten über Jahrzehnte hinweg in Angst und Schrecken zu versetzen vermochte, und damit verbunden auch für die Existenzkrise einer Literatur, die in der politischen Aufbruchstimmung der 1960er- und 1970er-Jahre dieser Bewegung noch einmal neues Leben einhauchen wollte. "Die Arbeiterliteratur ist tot. Sie hauchte ihren Geist Ende der achtziger Jahre aus", bilanzierte der Germanist Rüdiger Scholz vor wenigen Jahren. Wenn man Gisela Elsners Roman aufschlägt, bekommt man eine Ahnung von den Todesursachen.


Titelbild

Gisela Elsner: Otto der Grossaktionär.
Herausgegeben von Christine Künzel nach der Typoskriptfassung.
Verbrecher Verlag, Berlin 2008.
172 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426093

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