Bildung als "gendered concept"

Rolf Löchel über "Das Geschlecht der Bildung - Die Bildung der Geschlechter"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Thema Geschlechterdifferenz boomt in der Erziehungswissenschaft, stellen Holger Tiedemann, Britta L. Behm und Gesa Heinrichs, die HerausgeberInnen des Sammelbandes "Das Geschlecht der Bildung - Die Bildung der Geschlechter", fest. Andererseits sei man(n) jedoch auch schon immer häufiger der Genderthematik überdrüssig. Wiederholt werde die Forderung laut, nachdem das Klassenziel erreicht sei, solle man das Thema doch nun endlich "ad acta legen", damit man sich wieder den "echten sozialen Problemen" zuwenden könne. Die Beiträge machen jedoch deutlich, dass weder das Klassenziel erreicht wurde, noch "gender" und "Soziales" gegeneinander ausgespielt werden können.

Die HerausgeberInnen, die "Bildung als gendered concept" auffassen, machen drei Ebenen aus, auf denen die Geschlechterfrage für die Erziehungswissenschaft relevant sind, und ordnen die Beiträge entsprechend in drei Gruppen, deren erste sich mit der Geschichte der Erziehungswissenschaft befasst, die zweite die gegenwärtigen praktischen Kontexte behandelt und die dritte das theoretische Selbstverständnis erörtert. Eine Anordnung, die Sinn macht. Und fast alle Aufsätze sind lesenswert! Besonders interessant wird die Lektüre durch die oft differenten (Carmen Gransee / Gesa Heinrichs) oder gar kontroversen (Martina Koch / Hans-Christoph Koller) Stellungnahmen. Ermüdend und ein wenig 'witzlos' ist alleine der Text von Gerburg Treusch-Dieter zur mütterlichen "Tragik-Komödie mit Witz". Ihr angestrengt auf Bonmots bedachter Stil, der schon mal - nein, gleich zweimal - "die Milch der frommen Denkungsart [...] aus dem Phallus" fließen lässt, verdeckt mehr als er erhellt, so dass sich nur vermuten lässt, dass das, was sie zu sagen hat, einer anderen Sprache wert gewesen wäre.

Positiv hervorzuheben ist hingegen der Beitrag der Lacanianerin Barbara Rendtorff. Sie möchte zeigen, wie die "Menschen als Sprachwesen durch die Sprache gezeichnet" sind, welche Konsequenzen sich hieraus für die Beziehung der Subjekte untereinander ergeben und welche Rolle die "Tatsache des Geschlechtes" dabei spielt. Hierfür hält sie die psychoanalytische Theorie Lacans für besonders geeignet. Zunächst bewältigt sie mit bekannter Souveränität (siehe die Rezension von "Geschlecht und différance" in literaturkritik.de Jg. 1 Heft 4, 1999) das schwierige Unterfangen, den Lesenden auf engstem Raum Lacans sowohl komplizierte als auch komplexe Theoreme nahe zu bringen: Das von der symbolischen Ordnung getragene Schema £ der Begegnung und Kommunikation ebenso, wie das Verhältnis von Signifikant und Signifikat, das sich im "algebraischen Balken", der barre (S/s) darstellt. Ersteres stellt die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Kommunikation des wahren und des reflektierenden Ich mit dem konkreten anderen und dem allgemeinen Anderen dar; zweites die gleichzeitige Getrenntheit und Verbundenheit der Subjekte durch die Sprache. "Erster Repräsentant" so Rendtorff weiter, sei das Geschlecht. Das "eigene Genitale am eigenen Körper" weise auf das je andere Geschlecht, das jemand niemals haben oder sein könne. Bildung, die eine "Affinität zu Freiheit" habe, schließt die Autorin nun, müsse es durch eine "Sexuierung des Wissens" darum gehen, diesen "Mangel im Subjekt" nicht zu verdecken, sondern offen zu halten und so das "Begehren zum Wissen" zu befreien. All dies trägt Rendtorff nachvollziehbar und überzeugend vor. Zu bemängeln ist lediglich, dass sie mit ihrer Insistenz auf der Bipolarität der - somit eben nicht mehr als zwei - Geschlechter unnötigerweise hinter den Einsichten der queer theory zurückbleibt.

Nicht alle Beiträge weisen dieses Manko auf. Ganz anders etwa Joachim Schröder, der beklagt, dass die Schule nur zwei Geschlechter kenne; er thematisiert den Umgang mit Minderheiten innerhalb des Bildungssystems. Ebenso Martina Koch, die wiederholt darauf insistiert, dass die Auffassung, es gebe "genau zwei Geschlechter mit biologisch eindeutig verifizierbaren geschlechtlichen Körpern", ein historisches Produkt sei.

Carmen Gransee setzt sich mit Donna Haraways Cyborg-Konzept auseinander, das sie als Kritik identitätslogischer Bestimmungen interpretiert. Es bleibe jedoch fragwürdig, ob in einer "post-gender-Welt", wie Haraway sie utopisch antizipiert, "die hegemoniale Zweigeschlechtlichkeit", als aufgelöst gelten oder auch nur als auflösbar gedacht werden könne. Aus ihrer an Adornos "Negativer Dialektik" geschulten, "dialektisch-gesellschaftsanalytischen" Sicht klagt sie die zentrale Berücksichtigung "historisch-genetischer Kontexte" identitätslogischer Setzungen wie 'Natur' und Geschlechterdifferenz ein. Zudem moniert sie - ähnlich wie bereits in ihrer Dissertation, doch nicht ganz so vehement - die "übergewichtige Konzentration" feministischer Theorie auf "symbolischkulturelle Ordnungsmuster, hegemoniale Narrationen oder Diskursformationen". Über sie sei gesellschaftskritisch hinauszugehen. Hierzu müsse ein "Begriff gesellschaftlicher Objektivität" herangezogen werden, der nicht "in diskursiven Konstellationen verflüssigt" werde.

Gesa Heinrichs thematisiert zunächst die Beziehung von Bildungskonzeptionen und Identitätstheorie und zeichnet die Entwicklung des Begriffs Identität seit den 60-er Jahren nach. Hatte kritische Bildungstheorie zunächst ihr Ziel vorrangig in Identitätsbildung, so wird diese nunmehr sehr viel kritischer gesehen. Sie sei nur durch Ausgrenzung möglich, die nicht nur anderen unrecht tue, sondern zudem das eigene Ich gesellschaftlichen Zwängen und 'Spielregeln' unterwerfe. Differenz sei nunmehr stattdessen der zentrale Begriff. Der "Aufschrei auch deutscher Feministinnen", den Judith Butlers gender trouble auslöste, weise darauf hin, dass, wie sie ironisch formuliert, die "undankbare Tochter", die den "heroischen Kampf der Mutter" vermeintlich nicht würdige, einen neuralgischen Punkt des Feminismus getroffen habe. Im Anschluss an die amerikanische Theoretikerin sieht Heinrichs eine Korrelation zwischen der Theorie, der zufolge Diskurse "in einem 'Netz der Macht' induziert", werden und sich so in Körper einschreiben, mit der Tatsache, dass sowohl Transformationen von Gesellschaftsbeziehungen als auch des Selbst nur schwer möglich sind. Daher kann es im "Diskurs der Bildung" nur darum gehen, bisher Unausgesprochenes zu formulieren, um so "Anderes" zu ermöglichen. Hierzu gehört eben auch gerade , die "Dichotomie von männlich und weiblich in ihrer zentralen und unterdrückenden Wirkung zu verstehen."

Die bereits erwähnte Kontroverse zwischen Martina Koch und Hans-Christoph Koller nimmt ihren Ausgang von einem Aufsatz Kollers. Unter Rückgriff auf Butler und insbesondere Lyotards Theorem des "Widerstreits" entwickelt er die These, dass für Frauen und Männer gleichermaßen ein und dasselbe Bildungsziel gelte: Die "Anerkennung" eben des Widerstreits und die "Artikulation dessen, was in den zur Verfügung stehenden Diskursen nicht gesagt werden" kann. Das Ziel der "Bildung der Geschlechter" habe insbesondere darin zu bestehen, Männer und Frauen zu befähigen, mit dem "Widerstreit" im Sinne Lyotard "skeptisch-anerkennend" sowie "innovativ-erfinderisch" umzugehen. Das weckt den "Widerspruchsgeist" Kochs, die in Kollers Ausführungen die "Historizität der Geschlechterrollen" vernachlässigt sieht. Daher drohe sein bildungstheoretischer Entwurf, die stärker werdende Belastung von Frauen zu legitimieren. Aus Kollers Aufsatz und Kochs Kritik entwickelt sich in Replik und Gegenreplik eine Kontroverse um die geschlechtertheoretische Fundierung praktischer Bildung der Geschlechter, die zu den Glanzlichtern des Bandes zählt.

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Britta L. Behm / Gesa Heinrichs / Holger Tiedemann (Hg.): Das Geschlecht der Bildung - die Bildung der Geschlechter.
Verlag Leske und Budrich, Leverkusen 1999.
281 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3810024589

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