Erinnerungskultur revisited?

Ein stadtgeschichtlicher Band über Jena als Erinnerungsort

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Sammelband geht aus einer im Kontext des 450. Jubiläum der Universität Jena veranstalten Tagung unter dem Titel "Schiller - Abbe - Haeckel: Jenaer Selbstbilder im Kontext nationaler Erinnerungskultur" hervor. Man sah sich bemüht, "Traditionen und Symbolfiguren in verschiedenen Zeitepochen" zu beleuchten und deren Ge- und Missbrauch zu erörtern. Im Zentrum der Konferenz standen Friedrich Schiller, Ernst Abbe und Ernst Haeckel, jeweils unter dem Aspekt der Erinnerungskultur rekapituliert. Die über dreißig Beiträge des Bandes vermitteln vielfältige Annäherungen an das skizzierte Thema, wenn auch der Abschnitt über Ernst Haeckel mit nur zwei Beiträgen etwas mager ausgefallen scheint.

Der Band ist in sechs, respektive sieben Abschnitte geteilt. Diese werden durch ein Geleitwort und ein Vorwort treffend eingeleitet. Die Herausgeber skizzieren in ihren Vorbemerkungen die Inhalte des Bandes und stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die beiden Begriffe Erinnerungskultur und Jena bewegen. Die Herausgeber machen in der Einleitung den Leser mit dem breiten Spektrum der Kultur in Jena vertraut. Angefangen von der kleinen Universitätsstadt über Jena als Hochburg des Pietismus, die kulturellen und universitären Veränderungen um 1800 und bis hin zu den philosophischen und lebensreformerischen Entwicklungen um 1900. Dass Ernst Abbe ein "Zeitalter naturwissenschaftlich-kultureller und wirtschaftlicher Höhepunkte" begann, wird ebenfalls berücksichtigt.

Die inhaltlichen Schwerpunkte lassen sich aus den einzelnen Abschnitten des Bandes nur bedingt entnehmen: I. Orte und Milieus der Erinnerung, II. Jena-Deutungen, III. Selbstbilder und Erinnerungskultur, IV. Schiller-Bilder, V. Haeckel-Bilder, VI. Abbe-Bilder und als letztes ein Abschnitt unter dem Titel "Beiträge der Ernst-Abbe-Preisträger". Dabei fallen der zweite und dritte Abschnitt mit jeweils sieben respektive acht Beiträgen am umfangreichsten aus. Ein Anhang, dem erfreulicherweise ein Personenverzeichnis mitgegeben wurde, schließt den umfangreichen Band ab.

Der erste Teil setzt sich auf einer übergreifenden Ebene mit dem Begriff der Erinnerung auseinander. Der Beitrag von Jürgen John perspektiviert diesen auf das Dreigestirn Schiller, Abbe und Haeckel unter dem Aspekt nationaler Konnotationen eines Jena-Bildes. Hans-Werner Hahn liefert einen historischen Längsschnitt in seinem Aufsatz "Zwischen Freiheitshoffnung und Führererwartung. Ambivalenzen bürgerlicher Erinnerungskultur in Jena 1870 bis 1930". Von Rüdiger vom Bruch kommt in diesem einleitenden Abschnitt noch der institutionsgeschichtliche Beitrag "'Universität' - ein 'deutscher Erinnerungsort'?" hinzu.

Im zweiten, den "Jena-Deutungen" gewidmeten Abschnitt wird über Jena aus der Perspektive des Idealismus (Birgit Sandkaulen), der Frühromantik (Jan Urbich) und des pädagogischen Jena berichtet und die Feierlichkeiten zum einhundertjährigen Jubiläum der Schlacht des Jahres 1806 unter einem deutsch-französischen Blickwinkel intelligent beleuchtet (Daniel Mollenhauer). Ein Essay über die Burschenschaften in der nationalen Erinnerung der Deutschen (Joachim Bauer, Holger Nowak, Thomas Pester), Meike G. Werners über Eugen Diederichs und seinen Verlag beziehungsweise seine Bestrebungen, einen Beitrag zur Moderne um 1900 zu leisten und eine interessante Untersuchung zur Rezeption Jenas aus dem Blickwinkel Amerikas beziehungsweise aus der Perspektive des Journalisten, Deutschlandkorrespondenten und Pulitzerpreisträgers Huber R. Knickerbocker (Christoph Hänel) schließen diesen Teil.

Der dritte Abschnitt vermittelt den eigenen Blick der Stadt auf sich: Selbstbilder. Diese werden in einem Beitrag über universitäre Reden (Dieter Langewiesche), über Denkmalkultur (Michael Maurer), über die "Geschlechterinszenierung auf Wandgemälden des Universitätshauptgebäudes" (Gisela Horn) und verschiedenen Stadt- und Universitätsjubiläen (Reinhard Jonscher, Antje Halle, Stefan Gerber) dem Leser nahe gebracht. Erfreulich aktuell ist der Beitrag von Tobias Kaiser über die Rezeption von Karl Marx an der Universität Jena nach 1945. Abgeschlossen wird der Abschnitt mit einem Beitrag von Marco Schrul über den "Wandel der lokalen Erinnerungskultur in Jena seit 1989". Dabei wird gerade in diesem Beitrag deutlich, wie aktuell das Thema ist und wie sehr es den Diskussionen über Werte und den Wertewandel in einer demokratischen Gesellschaft nahe steht. Ein beredetes Beispiel ist die Rekapitulation der Debatte um die Ehrenbürgerschaft des Jenaer Kinderarztes Jussuf Ibrahim, auf dessen Beteiligung an der Kindereuthanasie in der Landesheilanstalt Stadtroda schon in den 1980er-Jahren Ernst Klee hingewiesen hatte. Schrul schließt mit einem Engagement von öffentlicher Seite einfordernden Statement: "Die Verständigung über den grundsätzlichen Umgang mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts blieb im kommunalpolitischen Raum rudimentär. [...] Insgesamt gerieten Stadtverwaltung und Stadtrat so von einer erinnerungskulturellen Krise in die nächste und betrieben zwischenzeitlich eine Flucht in die Vermarktung der weniger problematischen Abschnitte der Geschichte von der Romantik und den Schlachtfeldern von 1806 über Schiller zu Abbe und Haeckel. Die aufgezeigten Probleme in der Denkmallandschaft und die Defizite des öffentlichen Gedenkens werden allenfalls vereinzelt und anlassbezogen diskutiert. Was fehlt, ist zunächst vor allem eine konzeptionelle Grundlage für den Umgang mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts vor Ort."

Im vierten, fünften und sechsten Abschnitt werden die drei "Protagonisten des Projektes" Schiller, Abbe und Haeckel unter rezeptionsgeschichtlichen Aspekten untersucht. Ob im Vergleich mit Goethe, der Instrumentalisierung durch politische Systeme oder in Hinblick auf Glorifizierung und Verehrung arbeiten sich die Autoren dieser Abschnitte an den drei Leitfiguren ab - mehr oder weniger erfolgreich und originell.

Zusammenfassend ist dies ein für Kultur-, Geschichts- und Literaturwissenschaftler wichtiger Band, der die Untersuchungen von Pierre Nora, Etienne François und Hagen Schulzes zur Erinnerungskultur auf der Ebene der Mikrostudien mehr oder weniger gelungen fortsetzt. Bis auf wenige, partiell substanzlose Beiträge handelt es sich um einen durchgängig lesenswerten und auf hohem Niveau konzipierten Sammelband, der sich in seiner Art vorbildlich mit der Stadt und der Erinnerungskultur auseinandersetzt - und dabei eine Vielzahl bisher unbeachteter Aspekte beleuchtet.


Titelbild

Jürgen John / Justus H. Ulbricht (Hg.): Jena. Ein nationaler Erinnerungsort?
Böhlau Verlag, Köln 2006.
588 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3412045063
ISBN-13: 9783412045067

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