Der Schlaf der Vernunft gebiert Welten
Elisabeth Bronfens Reise durch die Nacht
Von Ingrid Wurst
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Nacht und die ihr eigenen Seinsweisen - der Schlaf, der Traum, aber auch die Schlaflosigkeit und das Nachtwandeln - haben von jeher eine große Faszination auf den Menschen ausgeübt. Davon zeugt ein unermesslicher Reichtum künstlerischer und philosophischer Quellen. Entsprechend war das Thema wiederholt Gegenstand der Literatur- und Kulturwissenschaften, wie auch einer breit angelegten Ausstellung des Dresdner Hygiene-Museums im vergangenen Jahr. Nun liegt mit der Studie "Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht" der Zürcher Kulturwissenschaftlerin und Anglistin Elisabeth Bronfen die wohl umfangreichste Auseinandersetzung mit der Denkfigur der Nacht vor. Umfassend ist ihre über 600 Seiten starke Publikation sowohl hinsichtlich des untersuchten Zeitraums (von der Antike bis zur Gegenwart) als auch hinsichtlich der Vielfalt des in Anschlag gebrachten Materials - neben dem Fokus auf literarische Quellen widmet die Autorin auch der Philosophie und Malerei, und insbesondere dem Film große Aufmerksamkeit.
Den Einstieg in das Thema aber liefert die Oper. Anhand des Librettos zur "Zauberflöte" skizziert Bronfen im Prolog die wohl vertrauteste Deutung der Nacht: im Projekt der Aufklärung wird sie zur Chiffre für das "Andere der Vernunft", zur Bezeichnung dessen, was sich jenseits der Grenze der Rationalität befindet. In Anlehnung an Max Horkheimer und Theodor W. Adorno macht Bronfen aber auch auf die der Aufklärung innewohnende Dialektik aufmerksam, in der Tag und Nacht immer schon Spuren des jeweils Anderen enthalten. Entsprechend zwiespältig liest sich die Geschichte der Nacht: Stand sie in der Antike für eine schöpferische Potenz, die sich im Moment des Umschlagens von Chaos in Kosmos offenbart, so war sie später Gegenstand wiederholter Dämonisierung und Entdämonisierung, wie Bronfen gleich zu Beginn ihres Buches in großen Schritten zeigt (vom antiken Mythos über die Genesis, John Miltons "Paradise Lost" und Edward Youngs "Night Thoughts" hin zu Novalis' "Hymnen an die Nacht"). Hier, im Kapitel zu den "Kosmogonien der Nacht", wird der Grundgedanke des gesamten Buches ausgelegt. Sowohl die Vorstellung von der Nacht als weltschöpferischem Prinzip, als auch die stete Umwertung der Nacht, ihr Einstehen für Schrecken, Verlust und Tod ebenso wie für Geborgenheit, Kreativität und Heilung, durchziehen auch die nachfolgenden Kapitel und lassen erkennen, dass vor allem ein Merkmal der Nacht konstant bleibt: "Ihr wohnt eine irreduzible Ambivalenz inne."
Nach ihrem ersten Schnelldurchgang durch mehrere tausend Jahre Kulturgeschichte wendet sich die Autorin im nachfolgenden Kapitel ("Das dunkle Licht der Aufklärung") noch einmal dem 18. Jahrhundert zu, um mit Michel Foucault festzustellen, dass auch der aufgeklärten Erkenntnis ein Stück Nacht innewohnt. Die "dunklen Vorstellungen", die "petits perceptions" und die "cognitio obscura" der Erkenntnislehren von Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Wolff, Gottlieb Baumgarten und Immanuel Kant schließt sie als "Nachtseite des Geistes" mit den antiken und biblischen Codierungen der Nacht kurz. Zweifelte Baumgarten an der Möglichkeit einer klaren und deutlichen Erkenntnis, so sieht Bronfen darin eine Parallele zum kosmogonischen Gedanken der Dunkelheit als Voraussetzung für die Entstehung von Welt und Wissen. Ein wenig stutzt man, wie leichtfüssig Bronfen hier ihren Untersuchungsgegenstand ausweitet. Inwiefern tatsächlich die Nacht (jenseits des durchaus nicht zwangsläufig auf sie bezogenen Begriffs der "Dunkelheit") in den aufklärerischen Epistemologien eine Rolle spielt, die über die rein metaphorische und vor allem nachträglich eingeführte Redeweise von der "Nachtseite" der Erkenntnis hinausgeht, bleibt unklar - und scheint auch nicht im Interesse der Autorin zu liegen. Dass sie ihren ohnehin weit gefassten Gegenstand keineswegs begrenzen, sondern im Gegenteil auf alles auszudehnen sucht, was im weitesten (und das heißt auch: metaphorischen) Sinn mit Dunkelheit assoziiert ist, wird auch im Kapitel "Freuds Nachtseite des Seelenlebens" deutlich. Umstandslos wird hier das Bild der "Nachtseite" überall dort eingesetzt, wo Sigmund Freud vom Urzustand und der Urverdrängung, vom Unheimlichen, dem Unbewussten, dem Über-Ich, von den neurotischen Erkrankungen oder vom Todestrieb spricht. An Kontur gewinnen die Freud'schen Kategorien so nicht.
Vom Untersuchungsgegenstand zum analytischen Begriff wird die Nacht auch im nachfolgenden Kapitel ("Nacht-Allegorien"). Bevor sie sich den zahlreichen allegorischen Darstellungen der Nacht seit der Renaissance zuwendet (Michelangelo, Peter Paul Rubens, Karl Friedrich Schinkel, Philipp Otto Runge und anderen), fragt Bronfen hier nach der Nähe der Nacht zu bestimmten ästhetischen Darstellungsformen und konstatiert im Rückgriff auf Walter Benjamin eine sowohl stoffliche als auch formale Nähe der Nacht zur Allegorie. Im Gegensatz zum Symbol, dem "Bilde der organischen Totalität" erlaube ihre Mehrdeutigkeit und ihr Hang zur Vergänglichkeit es, von einer "nächtlichen Rhetorik der Allegorie" zu sprechen. Es soll nun also die "Nacht" als literaturtheoretische Chiffre für das Unbestimmbare, Ambivalente und Subversive fungieren, was ihr jene Stelle zuweist, die in der Kultur- und Literaturtheorie klassischerweise das "Weibliche" besetzt. Bedenkt man die von Bronfen angeführte weibliche Codierung der Nacht, scheint diese Austauschbarkeit der Begriffe nahe liegend. Die anschließenden Lektüren literarischer Texte (vor allem William Shakespeares) folgen entsprechend der These der Nacht als "Raum des Weiblichen" (227), eine Beobachtung, die anhand der Filmkomödien "The Philadelphia Story" (1940) und "Lady Eve" (1941) vertieft wird, in denen, so Bronfen, die Frauen das "nightrule" des Begehrens, der Täuschung und Entfremdung diktieren.
Mit der Hinwendung zur Figur der Schlaflosigkeit im Werk Marcel Prousts, Johann Wolfgang Goethes, Franz Kafkas, Emily Brontës und anderen rückt schließlich die wörtlich - als Zeitraum - verstandene Nacht wieder schärfer in den Blick. Schlaflosigkeit erscheint hier als Moment geschärfter Sinne, gesteigerter Sinnlichkeit und vermehrter Produktivität, die Nacht erweist sich als bevorzugter Zeitraum dichterischer Einbildungskraft. Niemand machte sich diesen Gedanken so zu eigen wie die romantischen Dichter - über deren Verhältnis zur Nacht man in dem vielversprechend klingenden Kapitel ("Romantische Nachtwächter") jedoch verhältnismäßig wenig und zumal wenig Neues erfährt. Während in vielen anderen Kapiteln die Quellenauswahl breit gestreut ist, ist sie hier, wo sie für das Thema besonders ergiebig hätte sein können, merkwürdig reduziert. Im Mittelpunkt stehen Ernst August Friedrich Klingemanns "Nachtwachen des Bonaventura", in denen die Nacht als Ort des Unheimlichen und des Wahnsinns, des mystischen Glaubens und des Kontakts mit den Toten erscheint. Zwar kehrt Bronfen etwas später noch einmal zur Romantik zurück (im Kapitel "Nachtstücke der Schauerliteratur"), verfolgt hier jedoch vor allem die Spur, die von der Romantik ins frühe 20. Jahrhundert zu führen scheint, indem sie die Nacht in E.T.A. Hoffmanns "Sandmann" als Ort des Unheimlichen im Freud'schen Sinne liest. Umgekehrt, so erfährt man hier, folge Freuds Fallgeschichte der Anna O. der narrativen Dramaturgie eines romantischen Nachtstücks.
Nachdem Bronfen die Nacht des weiteren als bevorzugten Raum des Doppelgängers ausgemacht und diesen durch Charlotte Brontës "Jane Eyre", Mary Shelleys "Frankenstein" und Richard Wagners "Tristan und Isolde" verfolgt hat, wendet sie sich dem nächtlichen Flaneur zu. Dieser führe die Nacht als Chiffre für die Grenzen des Erkennbaren weiter (wie sie zuvor bereits in den Kapiteln zur Aufklärung und zu Nietzsche nachgezeichnet wurde): Anhand von Edgar Allan Poes "Man of the Crowd", Charles Dickens "Nightwalks", Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" und Martin Scorseses "Taxi Driver" vertritt Bronfen hier die These, dass die Geschichten nächtlicher Flaneure just jenen Gedanken durchspielten, den René Descartes mit seiner ersten Meditation vorführte: den einer rückwärts gewandten Kosmogonie, die die gesamte Welt dem Zweifel aussetzt und bis an den Punkt führt, an dem nichts mehr gewiss sein kann. Diese Analyse von "Taxi Driver" bildet den Auftakt zu einer umfassenderen Beschäftigung mit der Nacht und der Dunkelheit als Gegenstand und bedingendes Medium des Films. Im Kapitel zum Film Noir wird dieser als Verarbeitung der Ängste vor und Sehnsucht nach Transgression beschrieben. Er stelle die Nacht als Schauplatz der Korruption, der Kriminalität, des Betrugs, der Schuld, aber auch als Ort weiblicher Macht aus und liefere damit einen Ausdruck des urbanen Unbehagens der amerikanischen Nachkriegszeit.
Im letzten Kapitel wird schließlich die in Louis-Ferdinand Celines "Reise ans Ende der Nacht" beobachtete Denkfigur der Nacht als Chiffre einer umfassenden Orientierungslosigkeit auf Goethes "Wahlverwandtschaften", George Eliots "Middlemarch", sowie Edith Whartons "House of Mirth" übertragen. Bronfen entdeckt in diesen Texten die Wiederkehr eines magischen Denkens, in dem die Nacht die Ausbildung einer moralischen Haltung ermögliche, da sie ein Ausagieren moralischer Transgressionen fördere und zugleich zeitlich begrenze. Von der Ethik kehrt Bronfen sodann zur Ästhetik zurück und zieht im Virginia Woolf gewidmeten Epilog noch einmal die Verbindung zwischen der künstlerischen Tätigkeit und der Nacht: Wie die Nacht erscheine auch das Schreiben als Moment, in dem aus dem Nichts eine Welt erschaffen wird. Ausgehend von Martin Heideggers Frage, warum überhaupt Seiendes ist und nicht vielmehr Nichts (die Bronfen zu der These führt, Heidegger habe eine "an der Nacht orientierte Konzeption des menschlichen Daseins" entwickelt) wird hier das nächtliche Nichts als Bedrohung, aber auch als Ursprung und Quelle des menschlichen Daseins verstanden.
Die Faszination, die zu allen Zeiten von der Nacht ausgegangen ist, macht Bronfen auf über sechshundert Seiten durchgehend greifbar. Dazu trägt ihr erzählerischer Stil ebenso bei wie ihr großes Geschick, Literatur und visuelle Medien anhand von prägnanten Zusammenfassungen und Beschreibungen präsent zu machen. Doch wenn Literatur, Malerei, Film und Philosophie aus fast 3.000 Jahren westlicher Kulturentwicklung in unerwartete Zusammenhänge gebracht werden, entsteht daraus noch keine Kulturgeschichte. Zwar belegen die von Bronfen ins Feld geführten Quellen den von ihr anvisierten Befund durchgängiger Denkmuster eindrucksvoll - die Nacht dient als Möglichkeit, das Nicht-Wissbare zu benennen, sie steht als Chiffre für den Ursprung der Welt und des Geistes, das produktive Chaos, das noch nicht Realisierte, für das Weibliche und das Nichts. Doch bergen die aufgezeigten Korrespondenzen auch eine große Enttäuschung: seit der Antike scheint die Nacht durchgängig ähnlich, zumindest vergleichbar gedacht worden zu sein. Ein besonderes, ihren kulturgeschichtlichen Entstehungskontext erhellendes Profil gewinnen die versammelten Materialien nicht. Der Frage, wie das Denken der Nacht mit dem theologischen, anthropologischen, medizinischen oder astronomischen Wissen der jeweiligen Zeit zusammenhängt, geht Bronfen nicht nach, was ihren Analysen eine gewisse Unschärfe verleiht. Um die alle Grenzen der Zeit und des Mediums überschreitenden Konstanten im Denken der Nacht aufzuzeigen, stellt Bronfen statt dessen verblüffende Verbindungen her: Scorseses Film "Taxi Driver" liest sie als postmoderne Umschrift der romantischen "Nachtwachen des Bonaventura", Freuds Beschreibung der Verdrängung des Unheimlichen dient als Analyseinstrumentarium von Miltons "Paradise Lost", und Virginia Woolf wird zur logischen Nachfolgerin Goethes.
Einen ähnlichen Dialog mit Vorläufern hätte man sich auch hinsichtlich der von Bronfen verwendeten Forschungsliteratur gewünscht, die bis auf minimale Ausnahmen im Dunkeln bleibt. Was aber am Ende vielleicht am meisten zu bedauern bleibt, ist, dass die Autorin der Nacht einerseits zu viel zumutet, ihr andererseits aber zu wenig zutraut. Eine Konzentration auf die (ohnehin unzähligen) Zeugnisse einer ästhetischen und philosophischen Auseinandersetzung mit der Nacht im engeren Sinn (eines spezifischen Zeitraums) hätte möglicherweise mehr Aufschluss über deren Kulturgeschichte gegeben als die oft willkürlich erscheinende Rede von den "Nachtseiten" des Lebens.
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