Geschlechtstrieb der Seele
Wolfgang Beutins dreibändige Studie über die Frauenmystik des Mittelalters
Von Geret Luhr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas vergangene Jahrhundert, das mit Freuds "Traumdeutung" eingeläutet wurde, kann in gewisser Hinsicht als das Jahrhundert der Psychoanalyse bezeichnet werden. Besonders wirksam entfaltete sich in ihm der Gedanke, dass - wie Ricarda Huch kurz nach dem Ersten Weltkrieg formulierte - "die höchsten geistigen Kräfte des Menschen" eng mit dem "Geschlechtstrieb" zusammenhängen. Von dieser Maxime aus operierend hat sich die Tiefenpsychologie nach und nach die verschiedenen geistesgeschichtlichen Fachgebiete erschlossen, so dass inzwischen das gesamte kulturelle Feld psychoanalytisch beackert und durchwühlt worden zu sein scheint. Und doch existieren immer noch unberührte Schollen, wie etwa auch die mittelalterliche Frauenmystik, der sich Wolfgang Beutins dreibändige, psychoanalytisch ausgerichtete Studie "Anima. Untersuchungen zur Frauenmystik des Mittelalters" widmet.
Bekanntlich ist es eines der Probleme psychoanalytischer Deutung, dass die Ergebnisse der interpretatorischen Arbeit von der Theorie immer schon vorgegeben sind: Man weiß, was man zu suchen hat und findet das Entsprechende. Evidenz zeigt die psychoanalytische Interpretation also vor allem dann, wenn die von der Lehre Freuds unterstellten psychischen Strukturen am kulturellen Objekt tatsächlich auf relevante Weise zur Wirkung gelangt sind. Demzufolge hat Wolfgang Beutin sich für seine methodischen Präferenzen fraglos das richtige Studienfeld gewählt. Kaum sind geistige Produkte denkbar, in die sexuelle Verdrängung und Sublimierung noch stärker hineinspielen, als in die mystischen Zeugnisse der lateinisch verfassten mittelalterlichen Nonnenliteratur. Beutin hat also leichtes Spiel, wenn er Texte analysieren kann, die ihre sexuellen Strukturen freigebig offenlegen wie der Text von Gertrud der Großen. Da blieb Gertrud eines Nachts schlaflos aus "inbrünstiger Sehnsucht", woraufhin sie, aus "Liebe" die eisernen Nägel ihres Kruzifixes herauszog, um statt dessen wohlduftende Gewürznelken hineinzustecken. Nun erkundigt sich Gertrud bei ihrem in visione erschienenen Bräutigam Jesu, wie ihm solche "Liebestat" gefiele, worauf er antwortet, dass er sie angenommen und als Belohnung dafür "allen ihren Wunden die Heilsalbe seiner Gottheit eingegossen" habe. "Sie nahm das Kruzifix, umarmte es und küßte es zärtlich und streichelte es. Nach einer Weile, ihr Herz war von dem langen Wachen ermattet, legte sie das Kreuz nieder und sprach: 'Ruh' wohl, mein Geliebter, gute Nacht. Laß' auch mich schlafen, ich muß die Kräfte wiedererlangen, ich habe sie in der Betrachtung mit Dir fast ganz verbraucht.' Sie sagte dies, wandte sich von dem Bild ab und wollte schlafen." Doch der Herr lässt sie nicht ruhen, sondern flüstert ihr bis zum Morgengrauen Hochzeits- und Liebeslieder ins Ohr.
Sicher sind nicht alle Visionen der sogenannten Brautmystik von derartiger Deutlichkeit. Und doch zeigt sich unter dem Blick Beutins zweifelsfrei, auf welchen Strukturen das aus der spirituellen Tradition des Christentums erwachsende Erlebnis der unio mystica maßgeblich beruhte. Freilich will Beutin der Mystik den religiösen Ursprung nicht absprechen. Ihm geht es vielmehr darum, die Mystik und die mit ihr verbundenen Phänomene auf den Konflikt zurückzuführen, "dem die religiösen Frauen unterlagen und woran mehr als zwei Instanzen beteiligt waren: neben dem Ich der Mystikerinnen und seinem Erhaltungstrieb und der - vorhandenen, nicht abzustreitenden - Sexualität mindestens noch die Klostergelübde, zentral hier: die Keuschheitsforderung zusamt der Verwerfung der säkularen Liebe im Christentum." Das klingt vielversprechend. Letztlich aber bleibt Beutin auch da, wo es wirklich interessant hätte werden können - nämlich bei den schwankenden Geschlechtsidentitäten innerhalb der mystischen Visionen - im psychoanalytischen Schema befangen. Es zeigt sich daran einmal mehr, dass traditionelle psychoanalytische Interpretationen weit hinter kulturwissenschaftlich orientierten und am dekonstruktiven Feminismus geschulten Lektüren zurückbleiben müssen. Hier wurde somit eine Chance vertan.
Stattdessen wiederholt Beutin die ewig gleiche Litanei von der Anfeindung der Psychoanalyse durch die Wissenschaften. Wen aber soll in diesem Zusammenhang das rein rhetorische Argument überzeugen, dass Mystik und Psychoanalyse allein deshalb zusammengehörten, weil beide Strömungen bis heute gegen starke gesellschaftliche Widerstände zu kämpfen hätten? Gleichwohl bleibt das vorliegende Werk über weite Strecken lesenswert: so wegen der Einbeziehung der Feuerbachschen Philosophie in die umfangreiche Analyse des Verhältnisses zwischen Religion und der psychischen Produktion der kollektiven Seele des Mittelalters, oder wegen der abschließenden Erörterung einzelner Mystikerinnen wie Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg oder Gertrud der Großen, durch die tatsächlich belegt wird, inwieweit die "höchsten geistigen Kräfte des Menschen" eng mit dem "Geschlechtstrieb" zusammenhängen.
Wolfgang Beutin: Anima. Untersuchungen zur Frauenmystik des Mittelalters. Teil 1. Probleme der Mystikforschung - Mystikforschung als Problem.
|
||||||