Aus dem Fenster kontrolliert er Vogelbeeren

Der erste Gedichtband in deutscher Übersetzung des Dichters und Dramaturgen František Listopad belegt eine ungebrochene Lust an artifizieller Poesie

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der "Fall Ivan Blatný" war in aller Munde, als Jürgen Serke 1987 seinen sensationellen Band "Die verbannten Dichter" herausbrachte. Vom kommunistischen Regime seiner tschechoslowakischen Heimat seit den 1950er-Jahren offiziell totgesagt, hatte er als einer der letzten Vertreter des tschechischen Surrealismus Jahrzehnte hinter den Mauern einer englischen Irrenanstalt verbracht. Ivan Blatný hatte sogar noch Verse geschrieben, die nur zum Teil durch einen glücklichen Zufall gerettet werden konnten.

Aber es gab auch exilierte tschechische Schriftsteller wie Ivan Diviš, Jan Cep oder Josef Jedlicka, deren Biografien unter weniger spektakulären Umständen verlaufen sind. Über Jahrzehnte hinweg waren ihre Texte in der Heimat verboten, verdrängt oder vergessen worden.

František Listopad war 1947 nach Paris gegangen und nach dem Februarumsturz der kommunistischen Partei nicht mehr in seine tschechoslowakische Heimat zurückgekehrt. 1921 in Prag geboren wuchs Listopad in einer böhmisch-jüdischen Intellektuellenfamilie auf. Die Protektoratszeit überlebte er im Untergrund, angewiesen auf die Solidarität von Freunden. 1945 gründete er mit Gleichgesinnten die Zeitung "Mladá fronta" (Junge Front) und schloss sich der jungen Künstlergruppe um dieses Blatt an.

Im Westen hatte František Listopad, der eigentlich Jirí Synek heißt, über Jahrzehnte in Lissabon gelebt. Er arbeitete beim Fernsehen, lehrte als Professor und wirkte sogar als Dramaturg am Lissaboner Nationaltheater - sowie nach der politischen Wende im Januar 1990 auch an mehreren tschechischen Bühnen.

Gedichte, Prosa und Essays hatte er über die Jahrzehnte seines Exils geschrieben und entweder auf Portugiesisch oder in kleinen tschechischen Exilverlagen veröffentlicht. Nur in den besten Almanachen und Sammelbänden tschechischer Lyrik sind auch wenige seiner Gedichte in deutscher Sprache übersetzt.

Für die vorliegende deutsche Erstausgabe hat Eduard Schreiber zwei Schlüsseltexte von František Listopad übertragen - den 1947 ganz im Zeichen der Befreiung entstandene Gedichtband "Jahrmarkt" und den 1992 veröffentlichten Band "Final Rondi", der die Wiederbegegnung mit seiner tschechischen Heimat verarbeitet. Hier fallen Namen von bereits verstorbenen aber auch noch lebenden Freunden, wie zum Beispiel Ludvik Kundera, der zurückgezogen im mährischen Kunštát lebt und arbeitet. Kundera, der das Werk, das Andenken aber auch das Grab des großen mährischen Dichters František Halas über Jahrzehnte hinweg gehütet hat, wird zum Dank mit dem Gedicht "Halas ruht hier gut" bedacht: "Aus dem Fenster kontrolliert er Vogelbeeren / Abflußrinnen, Vogelbrut / Durchs Fenster treten Vogelbeeren / ein bei Ludvík Kundera / Alle und alles gegenseitig sich besucht / unterm bewegten Himmel Kunštáts / Wer Himmel sagt Erde sagt // guten Wein trinkt man im Stehen".

Das geheimnisvolle Flirren der Landschaft um den böhmisch-mährischen Höhenzug, in welchem sich Himmel und Erde zu vertauschen scheinen, wurde auch von deutschen Dichtern wahrgenommen, als sie noch während der Zeit des geteilten Europas "den Weg zu uns gefunden" (Jan Skácel) und ebenfalls Ludvík Kundera in Kunštát besucht hatten. Als DDR-Schriftsteller hatten sich Heinz Czechowski, Adolf Endler, Peter Huchel, Wulf Kirsten, Reiner Kunze oder Günter Kunert von der bildstarken Vitalität der mährischen Poesie beeindrucken lassen. In der Zeit eines parteilich verordneten "sozialistischen Realismus" entfalteten sich diese tschechischen Ausflüge zugleich zu Zufluchten in eine völlig neue Welt poetischer Wahrnehmung.

František Listopads Lyrik ist freilich nicht ohne weiteres zugänglich. Farben, Bilder, Gerüche, Gefühle aber auch entfernte Erinnerungen und vage Ahnungen verbinden sich zu einem artifiziellen Gemisch, auf das sich der Leser am besten mit angehaltenem Atem und ohne viel zu fragen einlässt. Dann versteht man, warum im Gedicht "Levitation" Engel vergessen hatten, dass sie fliegen können - "mich überkam gleichfalls Vergessen / bis ich entsinnen mich werde bis du mir zuflüstern wirst / im entscheidenden Augenblick wird der Vers entstehen / der Körper fliegen / alle Selbstlaute werden duften".

Wie alle Bücher des Thanhäuser Verlages ist auch diese Ausgabe sorgfältig ediert und mit 18 Federzeichnungen und Holzschnitten von Christian Thanhäuser versehen. Eine Vorzugsausgabe für 40 Euro ist durch einen lose beigelegten Original-Holzschnitt ergänzt.

Respektabel ist auch die Leistung des Übersetzers Eduard Schreiber. Nach den von ihm übersetzten und herausgegebenen Büchern von Ludvík Kundera und Emil Juliš hat er ein weiteres Mal einem hochbetagten tschechischen Dichter noch zu Lebzeiten mittels einer Gedichtsammlung den Eintritt in die deutsche Sprachwelt ermöglicht.


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Frantisek Listopad: Jahrmarkt. Böhmen.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Eduard Schreiber.
Edition Thanhäuser, Ottensheim 2008.
146 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783900986667

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