Im ersten Kreis der Hölle
Alexander Solschenizyns großer Roman
Von Marcel Reich-Ranicki
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist nicht die Schuld des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn, daß sein Name eher an einen politischen Fall und eine kulturpolitische Affäre als an eine literarische Leistung denken läßt. Ähnlich wie vor zehn Jahren, als über Nacht ein so weltweiter wie fragwürdiger Pasternak-Kult entstanden war, gibt es heute eine Solschenizyn-Legende; und auch sie hat mit der Kenntnis seines Werks offenbar wenig oder nichts zu tun.
Um die Biographie des jetzt fünfzigjährigen Mathematik- und Physiklehrers aus Rjasan geht es dabei ebenfalls nicht. Er hat studiert, er nahm am Zweiten Weltkrieg als Offizier teil, er wurde 1945 wegen antistalinistischer Äußerungen verhaftet, er war acht Jahre im Konzentrationslager und danach drei Jahre in sibirischer Verbannung. Somit verrät sein Lebensweg nichts Ungewöhnliches. Er mag erschreckend sein und ist doch vollkommen banal: Millionen Sowjetbürger haben in dieser Zeit das gleiche durchgemacht.
Die Solschenizyn-Legende bezieht sich vielmehr auf seine gegenwärtige Situation, auf die allem Anschein nach bewunderungswürdige Haltung dieses Mannes, auf die Entschiedenheit und den Mut, mit denen er seine schriftstellerische Arbeit verteidigt und fortsetzt, ohne sich von den Konsequenzen beirren zu lassen, die sie schon gezeitigt hat und noch zeitigen kann. Ein Held und ein Märtyrer also? Sehr gut möglich, indes steht es nicht uns zu, dies zu bestätigen oder zu rühmen.
Aber so außerliterarisch derartige Umstände auch sind, sie üben auf die Beurteilung seines literarischen Werks in der westlichen Welt natürlich einen starken Einfluß aus. Ich meine nicht die leichtfertigen Verherrlichungen. Denn daß der Heroismus eines Autors nicht die geringsten Rückschlüsse auf die künstlerische Qualität erlaubt, versteht sich von selbst.
Hingegen werden wir etwas mißtrauisch, wenn wir hören, daß einer, der als Held und Märtyrer gilt, auch noch hervorragende Romane schreiben kann. Wer das behauptet, gerät fast automatisch in den Verdacht, die ästhetischen Ansprüche vernachlässigt oder bewußt reduziert zu haben. Eben deshalb sei mit Nachdruck gesagt: Es hieße den Rang Solschenizyns gänzlich verkennen, wollte man seine Epik mit gütiger Nachsicht behandeln.
Das zeigt abermals und mit besonderer Deutlichkeit sein ehrgeizigstes und umfassendstes Werk, der Roman, den er 1955, also noch in der Verbannung, begonnen und an dem er fast ein ganzes Jahrzehnt gearbeitet hat. Der "epische Kunstgeist" - schrieb Thomas Mann - sei "expansiv, lebensreich, weit wie das Meer in seiner rollenden Monotonie, zugleich großartig und genau, gesanghaft und klug-besonnen; er will nicht den Ausschnitt, die Episode, er will das Ganze, die Welt mit unzähligen Episoden und Einzelheiten, bei denen er selbstvergessen verweilt, als käme es ihm auf jede von ihnen besonders an. Denn er hat keine Eile, er hat unendliche Zeit, er ist der Geist der Geduld, der Treue, des Ausharrens, der Langsamkeit, die durch Liebe genußreich wird...".
Eine herrliche Definition, die freilich nicht auf alle Meisterwerke der Epik zutrifft (kann sie wirklich für Flaubert in Anspruch genommen werden oder gar für Kafka?), aber bestimmt für den klassischen russischen Roman gilt. Dieser Tradition, von der oft die Rede war aus Anlaß des "Doktor Schiwago", ist Solschenizyn in weit höherem Maße verpflichtet als Pasternak.
Ja, der "Erste Kreis der Hölle" ist tatsächlich expansiv und lebensreich, großartig und genau. Anders als im früheren "Iwan Denissowitsch" und in der späteren "Krebsstation" hat es Solschenizyn hier von vornherein auf das Ganze abgesehen, und doch verweilt er, ohne Eile und gelegentlich selbstvergessen, bei unzähligen Szenen und Motiven, Fakten und Einzelheiten, "als käme es ihm auf jede von ihnen besonders an". Allmählich entsteht ein riesiges Fresko, farbenprächtig und plastisch, ein weit ausholender und umfassender, ja geradezu enzyklopädischer Entwurf, eine epische Welt von verblüffender Anschaulichkeit und Geschlossenheit.
Natürlich drängen sich die Namen Dostojewskij und Tolstoi auf, beide wurden schon zum Vergleich herangezogen, wobei es übrigens stets nur um die Eigenart der Epik Solschenizyns geht und nicht etwa um seinen Rang. Doch können solche Parallelen nur bedingt richtig sein. Vor allem: nicht Dostojewskijs Impulsivität und Besessenheit, seine Passion und Dämonie spürt man im "Ersten Kreis der Hölle" und anderen Büchern Solschenizyns, sondern eher Tolstois Distanz und Souveränität, seine makellose Ruhe und Gelassenheit.
Indes verdanken die klassischen Romane der Russen - bis hin zum "Stillen Don" Scholochows - ihre Kraft zum großen Teil den so liebevoll wie unerbittlich gezeichneten Porträts der zentralen Gestalten. Für Solschenizyn gilt das nicht. Gewiß, auch bei ihm finden sich viele überzeugende Figuren, auch er hat für jeden Menschen, den er auftreten läßt, Zeit und Geduld, auch er kann sein Mitleid nie ganz verbergen.
Aber es fällt auf, daß die inneren Monologe, zumal der Intellektuellen, wenig anspruchsvoll sind, daß manche Gestalten, ohne daß dies etwa angestrebt wäre, holzschnittartig oder sogar simpel anmuten. Und je mehr sich Solschenizyn mit psychischen Vorgängen und Reaktionen beschäftigt, desto deutlicher wird es, daß er in dieser Hinsicht kaum Außergewöhnliches zu bieten hat.
Nicht die psychologische Analyse ist die starke Seite seines Talents, sondern die Beschreibung sozialer Zustände und Verhältnisse, die Darstellung charakteristischer Schauplätze und Milieus und, vor allem, die Vergegenwärtigung jener vielsagenden Situationen, mit denen sich seine Helden abfinden müssen.
Hier liegt der künstlerische Schwerpunkt des ganzen Werks: in der parabolischen Ausdruckskraft der Schauplätze und Situationen, die auch dann, wenn sich einzelne Handlungsfäden als wenig originell erweisen und manche Personen ziemlich blaß bleiben, alle Kommentare überflüssig machen und allein durch ihre Existenz innerhalb des Romans erschüttern.
Konkret gesagt: Den unermüdlich um sein Recht kämpfenden Ingenieur Gleb Nershin, eine Figur, die Solschenizyn wohl mit vielen eigenen Zügen ausgestattet hat, und dessen Freund, den Juden Wen Rubin, der nicht aufhören kann, die deutsche Literatur zu lieben und an den Kommunismus zu glauben - beide Gestalten werde ich vermutlich vergessen. Aber nicht das Institut Mawrino, in dem sie tätig sind.
Diesem Institut kommt im "Ersten Kreis der Holle" eine ähnliche Funktion zu wie dem Straflager im "Iwan Denissowitsch" und dem Krankenhaus in der "Krebsstation". Als Solschenizyn in der Sowjetunion vorgeworfen wurde, die Station und die Krankheit selber seien symbolisch gemeint, hat er dies energisch bestritten. Natürlich sind es Symbole, und dennoch zweifle ich nicht an der absoluten Ehrlichkeit seiner Antwort. Das eben unterscheidet immer wieder gute Romanciers von schlechten: Die einen entwerfen Modelle, die keine Realität haben, die anderen zeigen Realitäten, die sich als Modelle erweisen. Um den doppelten Boden braucht sich Solschenizyn nicht zu bemühen: Was immer er erzählt, es gerät ihm zum Gleichnis.
Das an der Stadtgrenze von Moskau gelegene Institut Mawrino ist zunächst und vor allem eine konkrete Realität, weder phantastisch noch mysteriös. In diesem riesigen Forschungszentrum, das Solschenizyn sachlich und nüchtern beschreibt, arbeiten Hunderte von Menschen: Mathematiker, Physiker und Chemiker, Techniker, Linguisten und Ingenieure und ihre Hilfskräfte. Manche kommen morgens und kehren abends nach Hause zurück, die meisten freilich, zumal die Wissenschaftler, übernachten an Ort und Stelle. Denn diese Wissenschaftler, zum Teil berühmte Kapazitäten, sind politische Häftlinge, die langjährige Urteile absitzen und die hier, wo sie Aufgaben des Staatssicherheitsdienstes zu lösen haben, unter relativ erträglichen Bedingungen leben dürfen. Er glaube im Paradies zu sein, sagt ein Neuankömmling, der dann hört: "Sie sind nach wie vor in der Hölle, man hat Sie aber in ihren besten und vornehmsten Kreis aufgenommen - in den ersten Kreis."
Ein Laboratorium also und doch ein Zuchthaus, ein wissenschaftliches Forschungszentrum und zugleich ein Konzentrationslager, ein Ort der Verurteilten und Verdammten und dennoch der Bevorzugten und Auserwählten, eine prosaische Realität und ein poetisches Sinnbild, ein Mikrokosmos, in dem sich ein Makrokosmos spiegelt.
Das Leben in dieser abgeschlossenen Welt, in der gekämpft und gespielt, gehaßt und geliebt wird, in der es Intrigen und Scherze und lange Diskussionen gibt, konfrontiert Solschenizyn unaufdringlich, aber unmißverständlich mit dem Alltag extra muros - also in der Stadt Moskau Anno 1949. Doch geht es nicht um Kontrasteffekte. Im Gegenteil: nicht ohne Ironie macht er deutlich, daß die streng bewachten Häftlinge im Grunde freier sind als jene, die stets mit ihrer Verhaftung rechnen.
Das gilt für die hohen Funktionäre, denen Mawrino untersteht und die alle Stalin fürchten, wie für die schikanierten und diskriminierten Angehörigen der Häftlinge, zumal ihre Frauen. Das gilt auch für den jungen Diplomaten Wolodin, dessen Schicksal auf höchst kunstvolle Weise mit den Arbeiten im Forschungszentrum verknüpft wird: Ihn, der einen Bekannten vor der ihm drohenden Gefahr telephonisch gewarnt hat, kann die Polizei schließlich auffinden, weil es in dieser Zeit in Mawrino gelingt, ein Gerät zur Identifizierung von Stimmen zu konstruieren. Und wieder haben wir es hier mit einem Motiv zu tun, das real und symbolisch in einem ist.
Aber es wäre falsch, diesen "Ersten Kreis der Hölle" als politischen Roman aufzufassen. Gewiß, die Lebenswege der hier auftretenden Personen hat ohne Zweifel die Politik bestimmt. Von der Politik ist auch in jedem Kapitel die Rede, und ähnlich wie Tolstoi in "Krieg und Frieden" führt Solschenizyn historische Figuren ein - so beispielsweise den Minister Abakumow und auch Stalin selber. Im Grunde jedoch spielt sich der Roman auf einer ganz anderen Ebene ab.
"Die Aufgabe des Schriftstellers besteht nicht darin", erklärte Solschenizyn im Jahre 1967 dem Vorstand des sowjetischen Schriftstellerverbands, "diese oder jene Staatsform zu verteidigen oder zu kritisieren." Hingegen müsse er "universale und ewige Themen" behandeln, so "die Gesetze der Menschlichkeit, die aus der unergründlichen Tiefe der Jahrtausende emporsteigen und erst dann verschwinden werden, wenn die Sonne verlöscht". Damit ist auch das Thema dieses Buches angedeutet.
Solschenizyn denkt nicht daran, die Qualen seiner Helden zu rechtfertigen, er hütet sich, ihren Leiden irgendeinen tieferen Sinn zu unterstellen. Aber seinen Glauben an die "Gesetze der Menschlichkeit" kann offenbar nichts erschüttern. Sehr charakteristisch sind Nershins mehrfache Äußerungen über den "Skeptizismus", der sehr nötig sei, "um steinerne Stirnen zu zerschlagen, um die fanatischen Stimmen zu ersticken. Aber der Skeptizismus kann nicht zu einem festen Boden unter den Füßen der Menschen werden."
Mag manchem Solschenizyns Glaube an das Gewissen und die Redlichkeit des Individuums (er scheut sich nicht, solche Worte ohne Anführungsstriche zu verwenden) altmodisch oder betulich vorkommen: Er meint es ohne Zweifel sehr ernst, und seine Überzeugung von der Unzerstörbarkeit des Menschen hat nichts mit politischen Kategorien zu tun; sie ist es, die Solschenizyn mit allen großen kommunistischen Schriftstellern gemein hat - von Isaak Babel bis Anna Seghers.
Dieser Grundhaltung Solschenizyns entspricht auch sein ungebrochenes, sein im besten Sinne naives Vertrauen zu den formalen Mitteln des tolstoischen Romans. Die künstlerische Aufrichtigkeit, die Unmittelbarkeit und die Geradlinigkeit dieses elementaren Erzählers sind so überwältigend groß, daß Akzente und Motive, die sich in einem westeuropäischen Roman pathetisch oder sentimental ausnehmen würden, hier kaum stören.
Die Frage, ob man noch heute so erzählen kann wie vor hundert Jahren, wird damit keineswegs bejaht und nur insofern beantwortet, als uns "Der erste Kreis der Hölle" an die Tatsache erinnert, daß ein Talent viele unserer Kriterien und Maßstäbe außer Kraft zu setzen imstande ist - ein Talent vom Format Alexander Solschenizyns.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: DIE ZEIT, 3.1.1969. Wir danken Marcel Reich-Ranicki für die Genehmigung zur Nachpublikation in literaturkritik.de. Die bibliografische Angabe zu dem 1968 erschienenen Buch lautete im Erstdruck: Alexander Solschenizyn: "Der erste Kreis der Hölle". Aus dem Russischen von Elisabeth Mahler und Nonna Nielsen-Stokkeby. S. Fischer Verlag, Frankfurt; 670 S., 25,- DM. Lieferbar ist derzeit die "Urfassung" des Romans als Taschenbuch.