Didaktische Reduktionen und der Blick auf das Ganze

Die Germanisten Klaus-Michael Bogdal, Kai Kauffmann, Georg Mein, Meinolf Schumacher und Johannes Volmert machen Ernst mit dem BA und verleihen dem 'Germanistischen Lehrbuch' neue Konturen

Von Jan StandkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Standke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der so genannte 'Bologna-Prozess' ist schon längst kein Papiergespenst mehr. In nahezu allen deutschen Universitäten prägen die Bachelor- und Masterstudiengänge mittlerweile das Profil der Fakultäten. Vor allem traditionelle Massenfächer wie die Germanistik werden dabei vor besondere Herausforderungen gestellt. Es gilt, die ungebrochen hohe (und weiter ansteigende) Zahl Studierender in knappen sechs Semestern mit den wesentlichen Inhalten, Themenfeldern und Methoden der germanistischen Teildisziplinen kompetenzorientiert vertraut zu machen, die potentiellen Arbeitsfelder abseits der typischen Germanistensammelbecken dabei im Blick zu behalten und den Studierenden bereits während der akademischen Ausbildung marktnahe Praxisfelder aufzuschließen. Hierbei muss das Konkrete aber immer noch so allgemein gehalten werden, dass die BA-Absolventen anschlussfähig für das breite Angebot der Masterstudiengänge bleiben, die es den Studierenden ermöglichen, über die Grenzen des BA-Studiums hinauszugehen.

Diese Neuordnung des universitären Studiums bedeutet für alle am akademischen Lehr- und Lernprozess beteiligten Instanzen eine maßgebliche Umstellung. Die 'Verschulung' des Lehrbetriebs erhöht nicht nur die Prüfungsfrequenz der Studierenden, sondern akzentuiert das Profil des akademischen Unterrichts auch für die Vermittelnden neu. Die Modularisierung des Studiums zielt auf eine Konzentration und Integration der disziplinären Wissensbestände ab und erhöht damit den Kommunikations- und Koordinierungsbedarf auf Fakultäts- und Institutsebene enorm. Die Erweiterungsbestrebungen der Germanistik in Richtung einer Vielzahl interdisziplinärer und hochspezialisierter Konstellationen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die notwendigen Koordinierungserfolge entlang der Fach-Gräben - etwa zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik - immer noch sehr bescheiden ausfallen. Eine wichtige Integrationsfunktion kann in diesem Zusammenhang dem germanistischen Lehrbuch zukommen, gleichwohl die jüngere Funktionsgeschichte dieser Textsorte in der Germanistik ein anderes Bild zeichnet. Hier finden sich im literaturwissenschaftlichen Feld die auflagenstarken Artikelsammlungen im Grundkursformat (zum Beispiel Brackert/Stückrath 2004) sowie die monografischen Einführungen (zum Beispiel Vogt 2008), die sich in didaktischer Anlage und stofflicher Tiefe mitunter deutlich voneinander unterscheiden. Dominiert bei den Einen der fachwissenschaftliche Anspruch, geht es bei den Anderen vor allem um den didaktisch gestützten Erstkontakt mit den Themenfeldern und Methoden der Disziplin. Übereinstimmungen zwischen den Lehrbuchtypen lassen sich vor allem hinsichtlich der Vernachlässigung der benachbarten Teildisziplin Linguistik aufzeigen. Deren Vertreter sind in der Regel jedoch ebenso wenig um Integration bemüht wie ihre literaturwissenschaftlichen Kollegen (zum Beispiel Linke/Nussbaumer/Portmann 2004).

Dieser Situation will das Lehrbuch "BA-Studium Germanistik" gezielt und konstruktiv begegnen, indem es "zum ersten Mal [...] ein Kerncurriculum für den BA Germanistik vorstellt, das alle Teildisziplinen des Fachs umfasst". Auf gut 300 Seiten (ergänzt um einen hilfreichen Abriss germanistischer Arbeitstechniken und eine zwanzigseitige Bibliografie) präsentieren die Autoren in modularisierter Form die Grundlagen des Fachs, die den Studierenden zum Ende der BA-Phase dazu befähigen sollen, das Vermittelte im Masterstudium oder in der Berufspraxis "vertiefen, ergänzen und perfektionieren" zu können.

Die Voraussetzungen für dieses Unternehmen sind denkbar gut. Den schwierigen Spagat zwischen der didaktischen Reduktion und Aufbereitung der Studieninhalte und dem Bemühen um den Blick auf die Gesamtheit des Fachs Germanistik vollführen die Autoren auf der Basis einer breiten Lehrerfahrung in den verschiedenen germanistischen Disziplinen. Vor allem Klaus-Michael Bogdal, aber auch Johannes Volmert, dessen "Grundkurs Sprachwissenschaft" seit Jahren eine Referenz im Germanistikstudium darstellt, stehen für den didaktischen Anspruch des Lehrbuchs.

Aus dieser Konstellation resultiert dann auch der wesentliche Unterschied dieses Lehrbuchs zur konkurrierenden Einführungsliteratur, in der didaktische Aspekte auf der Gegenstandsebene zwar zuweilen eine Rolle spielen, in der Konzeption des Einführungstextes selbst jedoch selten gezielt berücksichtigt werden. Ob diese Differenz als Stärke oder Schwäche des Lehrbuchs gewertet werden kann, hängt ganz von der Perspektive auf den akademischen Unterricht und die Ziele des BA-Studiums ab: Die Beiträge, in denen die Autoren die Gegenstände, Themenfelder, Methoden und Theorien der Linguistik, Mediävistik, neueren deutschen Literaturwissenschaft, der Sprach- und Literaturdidaktik und auch der Medienwissenschaft präsentieren, vermitteln einen soliden Überblick, der zwangsläufig nicht ohne Lücken, Verkürzungen und Reduktionen auskommt. Das aber wäre nur dann dramatisch, wenn die Autoren für sich in Anspruch nehmen würden, die konzentrierte Summe des Fachs in einem einzigen Durchgang darstellen zu wollen. Hier beschreiten Bogdal & Co. andere Wege. Die einzelnen Kaptitel des Buches, die wie das BA-Studium in Basis- und Aufbaumodule unterteilt sind, können zwar im Rahmen des Selbststudiums gewinnbringend durchgearbeitet werden, ihre konzeptionelle und integrierende Wirkkraft entfalten die Texte aber erst dann, wenn sie als Stoff- und Inhaltsmatrix aktiv in die germanistischen Lehrveranstaltungen eingebunden werden.

Die Autoren weben ein durchdachtes Informationsnetz mit vielen Anschlussstellen und Orientierungspunkten, von denen aus die vermittelten Inhalte gezielt ergänzt und vertieft werden können. Das Erkennen solcher Orientierungsmarken kann nicht allein dem Studienanfänger überantwortet werden. Und auch dieses Lehrbuch vermag es nicht, jene Kompetenz gleich zu Beginn mitzuliefern. Es bedarf zunächst der Anleitung, um deutlich zu machen, an welchen Stellen weiter gelesen werden kann und muss oder welche Begriffe zu präzisieren beziehungsweise mit anderen zu vernetzen sind.

Dann aber ergeben sich hervorragende Möglichkeiten, um interessante und vielfältige Lernprozesse zu initiieren - durchaus auch im Sinne des 'forschenden Lernens'.

Natürlich: Dramen- und Erzählanalyse auf je drei (!), Sprachgeschichte auf zwölf und die Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart auf gerade einmal 59 Seiten - da darf man schon ins Grübeln geraten. Auch die Stellung von 'Simulakren' und 'informatischer Revolution' im Kerncurriculum der Germanistik mögen einige eher ablehnen als begrüßen. Positiv fallen ein luzides Kapitel zur Mediengeschichte und ein dringend notwendiger Vorstoß in Richtung Gegenwartsliteratur auf. Wiegt sich das auf? Natürlich nicht, und das soll es auch nicht.

Ist es denn sinnvoll, den germanistischen Anfänger, ausgestattet mit einem ausführlichen Leitfaden zur Dramen-, Lyrik- und Erzählanalyse, in das Dickicht der deutschen Literatur zu schicken und zu hoffen, dass er, sensibilisiert für die jeweiligen, individuellen Erfordernisse der Textinterpretation und geübt im Handling des differenzierten Methodenrepertoires, zurückkehrt? Kann und soll ein Leitfaden zur Gesprächsanalyse das konzentrierte Seminargespräch oder die Übung zur Pragmalinguistik ersetzen? Wohl kaum!

Reicht es also aus, was das Lehrbuch Germanistik anbietet? Ja - aber nur dann, wenn erstens das Fach selbst nicht mit einem Lehrbuch identifiziert wird und man zweitens erkennt, dass auch ein Lehrbuch zumeist nur so gut sein kann, wie diejenigen, die damit aktiv in der Lehre arbeiten. Dies trifft wohl in Zeiten von BA und MA genauer zu als je zuvor.

Das Lehrbuch "BA-Studium Germanistik" macht erfolgreich Ernst mit dem BA und schafft eine Balance zwischen didaktischen Reduktionen und dem Blick auf das Ganze des Fachs. Man kann sich nur wünschen, dass das Lehrbuch im akademischen Unterricht intensiv genutzt wird und alle Möglichkeiten und Chancen, die es bietet, ausgetestet werden. Dafür aber wird den Bachelor-Studierenden wohl leider die Zeit fehlen.


Titelbild

Klaus-Michael Bogdal / Kai Kauffmann / Georg Mein (Hg.): BA-Studium Germanistik. Ein Lehrbuch.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007.
344 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783499556821

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