Diskursanalyse als Erbauungsliteratur?

Hans-Georg Pott durchkämmt die Literaturgeschichte nach positiven Bildern des Alters

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Old age is no place for sissies", warnte einst die Schauspielerin Bette Davis: Alter ist nichts für Feiglinge. Sie sprach vermutlich aus Erfahrung, hatte sie doch in Beruf, Familie und Krankengeschichte genügend Kämpfe auszutragen. Auf ihren Grabstein ließ sie den Spruch setzten: "She did it the hard way". Der emeritierte Düsseldorfer Germanistikprofessor Hans-Georg Pott scheint mit seiner Studie "Eigensinn des Alters" nun Bette Davis berühmte Warnung entkräften zu wollen. Er macht sich auf die Suche nach aufmunternden Bildern des Alters, die er aus der abendländischen Literatur- und Geistesgeschichte versammeln möchte, um sie einem - vermeintlich defätistischen und entmündigenden - aktuellen Mediendiskurs über das lästige Alter entgegenzustellen. Das vorgelegte Ergebnis verdient jedenfalls kaum den heroischen Epitaph der großen Actrice.

Um den Weg für seine etwas altbacken demodierte Literaturgeschichte in moralisch erbaulicher Hinsicht freizuschießen, bastelt sich der Germanist als Kulturkritiker erst einmal einen arg wackeligen Pappkameraden. Es sei die böse Gesellschaft, die den lustigen Alten ihr gutes, sinnvolles und selbstbestimmtes Leben nicht zugestehen will: "Nichts versetzt die Gesellschaft in Erregung und Schrecken wie der Gedanke, die Alten könnten eigensinnig und autonom ihr Alter bestimmen wollen und den Vertrag aufkündigen der vorangegangenen kollektiven Enteignung ihres Sinnes und ihrer Sinne: sie würden sich dem Konsumismus verweigern und den massenmedial vermittelten Bildern und Diskursen; sie würden ihre Würde selbst bestimmen [...]."

Kaum nachvollziehbar, dass die heutige Gesellschaft und Politik panische Angst gerade vor autonomen und autarken Alten haben sollte. Die diagnostizierte, "kollektive Enteignung des Sinns und der Sinne", die angeblich den Alten widerfahre, trifft wohl kaum den realen Kern von demografischen, renten- und gesundheitspolitischen Problemlagen, die in den letzten Jahren ein wichtiges Thema der politischen und dann auch der kulturellen Diskussion (mithin: der Feuilletons) waren.

Im Schlusskapitel - das eigentlich eher eine, wiewohl nicht unbedingt originelle oder gelungene methodische Grundlegung zur literaturwissenschaftlichen Analyse von Altersbilder darstellt - wird das Alter als "kulturelle Konstruktion" begriffen. Geradezu grotesk wird Potts Versuch einer diskursanalytischen und zugleich humanistischen, einer mithin positivistischen und zugleich gewollt ethischen Studie des gelingenden, vorbildlichen Alterns, wo er sich für dieses erbauliche Unterfangen bei Michel Foucaults berühmten Diktum vom "Tod des Menschen", dessen Antlitz unter neueren epistemischen Bedingungen verschwinde, "wie am Meeresufer ein Gesicht aus Sand", rückversichern will. So soll Foucault umgemodelt werden zum Kronzeugen einer Kritik an den nur noch funktional, ohne einheitlich normatives Menschenbild operierenden Wissenschaften. Einige Seiten weiter bekennt Pott freimütig, dass "ein allgemeiner Begriff des Menschen ohne metaphysische und religiöse Implikationen nun einmal nicht zu haben" sei; genau diese waren dem Nietzscheaner Foucault ein intellektueller (und zugleich ein politisch moralischer) Greuel.

Zurück ins Feld des Plausiblen bewegt sich Potts methodisches Schlusskapitel, wenn er der Literatur und den Künsten die Aufgabe zuweist, Möglichkeitsspielräume und Freiheitsgrade zu erkunden. Die Fiktion und Imagination könne gegenüber einem - vermeintlich - generalisierenden allgemeinen Altersdiskurs die Spezifik von Einzelleben sowie die Potentiale diverser Entwürfe des Altseins in Kunstwerken durchspielen. Das ist soweit plausibel. Es bleibt jedoch die Frage, wie denn nun diese optimistischeren Altersbilder aussehen. Und welche Texte werden als Kronzeugen ausgewählt?

Das erste Kapitel sammelt Philosopheme über das Alter in der antiken Geistesgeschichte (Platon, Pindar, Cicero und Seneca) und verfolgt deren Wiederaufnahme in Texten von Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Thomas Mann und Jacob Grimm. Das zweite Kapitel ist den blinden alten Männern (Ödipus, Faust und König Lear) gewidmet. Die Kapitel drei bis fünf untersuchen wichtige Stationen der deutschen Literaturgeschichte, indem sie Altersbilder Johann Wolfgang Goethes und Christoph Martin Wielands sowie Adalbert Stifters, Theodor Storms, E.T.A. Hoffmanns, Wilhelm Raabes und Theodor Fontanes auf ihr identifikatorisches Potential hin abklopfen. Das sechste Kapitel wirft einen allzu flüchtigen Blick ins 20. Jahrhundert, dessen modernistische Literatur von T.S. Eliot, über Italo Svevo und Marcel Proust bis zu Samuel Beckett, Philip Roth und Martin Walser doch überaus reich an realistischen oder fantasmagorisch verfremdeten Altersbildern ist. Pott belässt es hier allerdings bei einigen Beobachtungen an Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenuntergang" (als einem neuen King Lear), an Bertolt Brechts "Unwürdiger Greisin" sowie an "Krapps letztem Band" als einzigem Text aus Becketts vielgestaltigem Pandämonium an grotesken Bildern der Vergreisung.

Die antike Lebenskunst maß dem Alter Weisheit zu und lobte dessen Gewinn an Einsichten, der den Verlust an Kräften und Lüsten überkompensiere. Gelingendes Altern wurde hier geradezu essentiell ans (gelingende) Denken gebunden: "Auf die rechte Weise altern zu können heißt auch philosophieren können und umgekehrt." Auch Kant lobte eine gewisse Ungeselligkeit der Alten als eine Art des nahezu erhabenen Sich-Selbst-Genugseins. Dieser positiven Vision vom Alter als Stadium der souveränen Einsicht opponieren die Figurationen des blinden Alten. Die Blinden sind freilich selber wieder in verschiedene (normative) Typen ausdifferenziert. Am Schluss von Ödipus' schuldbeladenem, frevelhaften Leben steht in Kolonos nicht die Frage nach Schuld und Schicksal, sondern der Fokus geht auf das Ende und die Vollendung des Lebens mit dem Erreichen eines Lebensziels, "wie er sich's gewünscht". Dagegen inszeniert der fünfte Akt von Goethes "Faust II." divergierende Bilder des 'Alten': zuerst die idyllische Behausung der Alten Philemon und Baucis, die bald durch Fausts Modernisierungsprojekt gewaltsam erledigt werden, dann Fausts Heimsuchung durch die Figur der Sorge, die von Pott in Anlehnung an Heidegger gedeutet wird - und schließlich Fausts Verblendung, wenn er auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen glaubt, obwohl er doch selbst unter Aufsicht des Teufels eine Sklavenhaltergesellschaft mit höllisch modernem Maschinenpark zur Landgewinnung geschaffen hat.

William Shakespeare erfand überaus viele, plastisch modellierte Figuren des Alters; der Geriatrie-Historiker Paul Lüth erklärte den englischen Dramatiker einst zum gerontologisch versierten Dichter par excellence. Die vorliegende Studie kümmert sich nur um den blinden, wütenden Lear. Gegen Goethes Xenien-Vers "Ein alter Mann ist stets ein König Lear!" protestiert Pott energisch. Lear sei als exzentrisches Bild des Alters kaum verallgemeinerungsfähig: "Die Wirkungsgeschichte des Lear, wenn sie verkürzt auf das Alter blickt, hat stets Mitleid mit dem Helden und verallgemeinert sein Schicksal zur 'tragischen Verlassenheit des Menschen'. Ich vermag kein Mitleid für ihn aufzubringen. Er hat weder Anflüge von irrer Weisheit noch etwas von einem weisen Narren. [...] Uneinsichtig, starrsinnig, unverschämt, verletzend: kaum ein Attribut ist ihm abzusprechen, das ihn zu einem der großen Schurken der Weltliteratur macht."

Unter der Überschrift "Alter und Moral" liest Pott Wielands "Oberon" und Goethes "Prokurator" (aus den "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter"). Goethes in die Wanderjahre eingelegte Novelle "Der Mann von fünfzig Jahren" dekonstruiere das topisch komische Modell des in eine viel Jüngere verliebten Alten. Der Alte werde hier nicht mehr als komischer Narr dargestellt. Er müsse jedoch, so die Moral und Altersweisheit des Textes, die Einsicht in das Unvermeidliche lernen, dass die Natur das letzte Wort behält und körperliche Verjüngung unmöglich ist. Aus der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts wählt der Literaturwissenschaftler unter der Überschrift "Bewahren" Textbeispiele der naheliegenden, üblichen Verdächtigen. Nach Beobachtungen an Hoffmans "Das steinerne Herz" als Parabel über das Vergehen der Zeit, die Erinnerung und die Generationenfolge findet Pott bei Stifter einen Kult der alten Dingen, etwa den über Generationen glatt geschliffenen Granitstein vor dem Haus. Die Großeltern werden bei Stifter (wie überhaupt im 19. Jahrhundert, das den Zerfall der Großfamilien brachte) zu Bewahrern alter Werte, zu Hütern der Kontinuität und Versöhnern bei Konflikten zwischen Eltern und Kindern.

Auch bei Storm und in Goethes "Wanderjahren" entdeckt Pott die Tendenz, dass alte Dinge zu quasi beseelten Subjekten werden und Erinnerungen speichern, während die Menschen durch Modernisierungs- und Ökonomisierungsprozesse zunehmend verdinglicht werden. So werde das Wissen der Alten immer weniger relevant für die modernisierte Lebenspraxis. Derart depragmatisiert mutieren alte Menschen bei Storm zu poetischen Figuren. Altersweisheit wird poesiefähig. Je weniger sie den Alltag bestimmen, um so stärker werden das Alte und die Altersweisheit ästhetisch goutierbar. Die Würde des Alters verziehe sich, so Potts einleuchtende Beobachtung, im 19. Jahrhundert aus der Lebenswelt in die Literatur. Dass diese kompensatorische Bewahrung eines schönen Alters in den markantsten modernistischen Texten des 20. Jahrhunderts (von Eliott über Beckett bis zu Roth) widerrufen wird, vermerkt dieses Erbauungsbüchlein über literarische Altersbilder allerdings nicht mehr.

Als großen Vorzug des Alters preist Pott mit Raabe (und seiner Erzählung "Altershausen") die Fähigkeit des erinnernden Erzählens, das zuvorderst in einem Zeit-Nehmen und Zeit-Geben bestehe. In Fontanes "Stechlin" werde die Würde des Alters aus dem beharrenden Widerstand gegen die Zeit und gegen den Tod gewonnen. Wie die Feministinnen Simone de Beauvoir und Betty Friedan, die zudem beide mit Großessays zum Alter hervorgetreten sind, sieht auch Pott einen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Er widmet ein Unterkapitel dem Image alter Frauen zwischen Hexe und unwürdiger Greisin. Diese Bilder und Rollenmodelle alter Frauen erklärt Pott als spezifische soziale Projektionen und als Ergebnisse geschlechtsspezifischer Sozialisation. Seine Textzeugen reichen hier von Michel Houellebecqs erbarmungslosem Rapport aus unserer Welt des Jugendkultes über Fontanes Hoppemarieken (der alterslosen Zwergin aus "Vor dem Sturm") bis zu Hedwig Dohms Roman "Werde, die du bist", der die Befreiungsgeschichte einer Rollenerwartungen durchbrechenden, 'unwürdigen' Greisin erzählt.

Nach dem knappen "Einblick ins 20. Jahrhundert" (Hauptmann, der "die Repression alter Menschen durch die Disziplinargesellschaft" aufdecke und Becketts Krapp, der im Gegensatz zu Prousts unwillkürlicher Erinnerung auf die mediengestützte Erinnerung von Tonbändern zurückgreift und die "Sinnnot" illustriere, die in den Industriegesellschaften die materielle Not als Hauptproblem des Alterns abgelöst habe) steht am Ende dieser kleinen Literaturgeschichte des Alters die Berufung auf das christliche Abendland und der Versuch einer Umwertung der Alterskrisen und Altersleiden durch die fromme Perspektive auf Unsterblichkeit im Jenseits. In deren Name wird zum guten Leben statt zu Konsum oder Fitness-Wahn gemahnt. Dass sich diese religiösen Tröstungen von Fortleben, Wiederauferstehung und Ewigkeit schlecht mit der anschließend angeführten existenzialistischen Ethik Simone de Beauvoirs vereinen lassen, ist dieser eher beliebigen Suche nach dem guten Alter ganz einerlei.

Eine breit angelegte germanistisch oder gar komparatistisch orientierte Studie zu den historischen Wandlungen der philosophischen und ästhetischen Alterdiskurse liegt noch nicht vor. Thomas Küppers schöne Studie von 2004 ("Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm") widmete sich den Verschiebungen in der Thematisierung des Alters von 1750 bis 1850. Die klassische, existenzialistisch und politisch engagierte Schrift "Das Alter", von Simone de Beauvoir 1970 vorgelegt, bleibt weiterhin das material- wie hilfreiche Kompendium zum Thema. Hans-Georg Pott kommt das Verdienst zu, dieses aktuelle und zukunftsträchtige Thema aufgegriffen zu haben. Angesichts seiner methodischen Schwächen und historischen Lücken dürfte dies aber noch nicht das letzte Buch zum Thema sein. Das Alter hat Zukunft. Das Alter ist unsere Zukunft: für jeden einzelnen, für unsere Gesellschaft und wohl auch für die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung.


Titelbild

Hans G. Pott: Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
195 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783770545957

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