Mangelhafte Integration

Der Historiker Andreas Kossert hat eine "Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945" veröffentlicht

Von Thomas HummitzschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hummitzsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie belasten nicht nur das Verhältnis Deutschlands zu seinen EU-Nachbarstaaten, sondern auch die innerdeutsche Gemütslage - die Diskussionen um ein wie auch immer geartetes "Zentrum gegen Vertreibungen", zu dessen Initiator sich der "Bund der Vertriebenen" (BdV) unter seiner umstrittenen Präsidentin Erika Steinbach erkoren hat. Die Gegner der deutschen Initiative werfen den Initiatoren revisionistisches Gedankengut vor, das darauf ziele, die damaligen Täter zu heutigen Opfern zu stilisieren. Der BdV und seine Unterstützer berufen sich ihrerseits darauf, der Erinnerung an die unmenschliche Vertreibungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg einen Ort geben zu müssen. Andreas Kossert, Osteuropahistoriker am Deutschen Historischen Institut in Warschau, nimmt in seinem Grundlagenwerk zur Geschichte der Vertriebenen eine Mittlerposition ein: "Vertreibung als Strafe für die deutschen Verbrechen - darin liegt ein guter Teil der Wahrheit, aber wahr ist eben auch, dass es in der Regel nicht die Verursacher und Täter, sondern die Unschuldigen - die Zivilisten, die Alten, die Frauen, die Kinder - getroffen hat."

Insgesamt 14 Millionen Menschen mussten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat im historischen Ostdeutschland verlassen, in dem seit mehreren hundert Jahren Deutsche lebten. Knapp zwei Millionen kamen bei den Vertreibungen ums Leben. Nach der Flucht vor dem herannahenden sowjetischen Militär folgten wilde Landnahmen durch die polnischen und tschechoslowakischen Machthaber und schließlich die vertraglich festgelegte Vertreibung durch das Potsdamer Abkommen. Etwa 2,5 Millionen Deutsche blieben teils freiwillig, teils zwangsweise in den Vertreibungsgebieten zurück.

Menschen aus Schlesien, Pommern, Posen und den Gebieten Ost- und Westpreußens kamen nach dem Krieg mit leeren Händen nach Deutschland. Bessarabien- und Buchenlanddeutsche, Siebenbürger Sachsen, Donauschwaben und Sudetendeutsche klopften plötzlich an die Türen der deutschen Nachkriegsgesellschaft und baten um Asyl. Doch statt die Landsleute als ebenbürtig aufzunehmen, schlugen den Vertriebenen oft rassistisch motivierte Schlagworte wie "Die Polaken kommen" entgegen. Nur widerwillig gab die deutsche Nachkriegsgesellschaft Wohnraum frei, um den Vertriebenen zunächst ein vorübergehendes Obdach zu gewähren. Vielerorts wurden aufgrund des Wohnungsmangels Barackenstädte errichtet, die zum Teil auch noch Jahre nach dem Krieg von den Vertriebenen bewohnt wurden. Erst die bundesdeutschen Wohnungsbauprogramme konnten der Wohnungsnot ein Ende bereiten.

Kossert macht deutlich, dass zur Ignoranz der Einheimischen oft noch der abrupte soziale Abstieg und die Armut kamen, die den Vertriebenen zu schaffen machten. "Oft kamen beruflich gut ausgebildete und angesehene Stadtbewohner aus Böhmen und Schlesien als Habenichtse in Bauerndörfer. Hier galten sie nichts und hatten nichts zu melden." Auf dem Arbeitsmarkt waren die Vertriebenen oft nur Arbeitskräfte zweiter Wahl. Die Hoffnung, eines Tages in die Heimat zurückkehren zu können, mussten die Heimatlosen nach und nach aufgeben. Die meisten Vertriebenen mussten sich ein völlig neues Leben aufbauen. Die Bundesrepublik versuchte mit dem Soforthilfegesetz 1949 und dem Lastenausgleichsgesetz 1952 den Vertrieben bestmöglich unter die Arme zu greifen, diesen Neubeginn in Angriff zu nehmen. Damit sollten die vom Krieg unberührt gebliebenen Vermögen zwischen den Besitzenden und denen, die alles verloren hatten, verteilt werden. Der Historiker weist jedoch faktenreich nach, dass die Ansicht, die erlittenen Vermögensverluste seien so ausgeglichen worden, ins Reich der Legendenbildung gehört. Vielmehr war es so, dass die Vertriebenen weniger Ausgleichszahlungen erhalten haben, als die ansässigen Kriegsgeschädigten, die den Krieg nicht mit dem totalen Verlust ihres Besitzes hatten bezahlen müssen. Auf die Sorgen, Nöte und Leiden der Vertriebenen, ihre kulturellen Wurzeln und Ursprünge sowie ihr Schicksal ist man kaum eingegangen. Andreas Kossert spricht hier von "Hartherzigkeit" und "Ignoranz" der eigenen Landsleute, die den Vertriebenen entgegengebracht wurden. Er veranschaulicht in seiner Untersuchung in zahlreichen Lebensbereichen, dass die Integration der Vertriebenen in Westdeutschland daher eher einer erzwungenen Assimilation entsprach, als einer gleichberechtigten Annäherung.

In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und später der ehemaligen DDR erging es den knapp vier Millionen Vertriebenen keineswegs besser. Vielmehr kam zu den annähernd ähnlichen sozialen und gesellschaftlichen Umständen ihrer Ankunft die Tabuisierung der erlittenen und beobachteten Verbrechen durch die sowjetischen, polnischen und tschechischen Bruderarmeen hinzu. "Uns wurde dort sehr schnell nahegelegt, nie wieder davon zu sprechen, was wir beim Einmarsch der Roten Armee erlebt hatten", zitiert Kossert eine in die DDR Vertriebene aus Königsberg.

Vertriebene waren in der SBZ/DDR per se keine Opfer, sondern der von der deutschen Gesellschaft zu zahlende Zoll für die Verbrechen des Hitlerfaschismus. Weder Bodenreform noch der sozialistische Teilhabegedanke konnten die wirtschaftliche und soziale Situation der Vertriebenen wesentlich verbessern. Hinzu kam die staatliche Schikanierung der Vertriebenen, so dass allein zwischen 1949 und 1961, also noch vor dem Mauerbau, deutlich mehr als 800.000 Vertriebene die SBZ/DDR verließen. Vertriebene fristeten in der ehemaligen DDR ein heimliches, nahezu illegales Schattendasein. Der Einigungsvertrag 1990 und seine darin festgelegten Restitutionsregeln ließ eine Vielzahl der Vertriebenen nun ein weiteres Mal um ihr Dach über dem Kopf fürchten. Sie sahen ihre Häuser und Wohnungen nun mit neuen Rückgabeansprüchen belastet, die sich aus den festgeschriebenen Regelungen zur Wiedervereinigung ergaben.

Dem erst 38-jährigen Andreas Kossert ist mit seiner "Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945" ein wertvolles Kompendium gelungen, das ein lange tabuisiertes Thema mutig und reif aufgreift. Unzählige Wortlaute und Zitate sowie vielfältiges Bildmaterial fließen in seine breite und dennoch souverän verdichtete Historie der Vertriebenen ein. Dabei verharrt er bei Weitem nicht auf der Ebene der Betroffenen und verantwortlichen Politiker. Er fragt auch nach der kulturellen Verankerung der ostdeutschen Lebensart, nach dem Einfluss auf die regionalen religiösen Besonderheiten in den Aufnahmegebieten und nach der literarischen und medialen Reflektion der vergangenen Geschehnisse. In Sisyphusarbeit listet er einen immensen Katalog von ost- und westdeutscher Vertriebenenliteratur auf - angefangen bei den Siegfried Lenz'schen Geschichten in dem Band "So zärtlich war Suleyken" über Anna Seghers "Die Umsiedlerin" und Christa Wolfs "Kindheitsmuster" bis hin zu Günther Grass' "Im Krebsgang".

Bleibt das leidige Thema der Interessenvertretung, an dass der promovierte Osteuropaexperte couragiert herangeht. Während in der SBZ/DDR Vertriebenenverbände als revisionistisch verboten wurden, dienten die meisten Interessenvertretungen in den alten Bundesländern lediglich der Zusammenkunft der einzelnen Vertriebenengruppen, dem Erhalt der eigenen kulturellen Traditionen und dem gegenseitigen Austausch. Lokal und regional ging es den "Landsmannschaften" um die Organisation von Festen und Wallfahrten oder die Einrichtung von Vereinshäusern. Allein der BdV mit dem Anspruch, die Alleinvertretung aller Vertriebenen bundesweit darzustellen, versuchte und versucht bis heute, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Dabei gelang es ihm nicht, "als Streiter für die Menschenrechte aufzutreten und seine heimatpolitischen Forderungen vom Verdacht der Revisionspolitik zu befreien. [...] Zur Irritation trägt in erheblichem Maße eine Minderheit im BdV bei, die zu einem Konfrontationskurs zurückkehren will, allen voran die Preußische Treuhand", lautet Kosserts deutliche Kritik in Richtung BdV.

Bleibt also nach der Lektüre der Kossert'schen Geschichtsschreibung nur die Einsicht in eine misslungene Aufnahme- und Integrationspolitik nach dem Krieg, die ihre Konsequenzen nun in einer rückwärtsgewandten Vertriebenenpolitik zeitigt? Nein, keineswegs. Kossert bietet mit seiner Vertriebenengeschichte eine hervorragend recherchierte und umfassende Grundlage für eine offene und ehrliche Debatte um das Schicksal der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Um Rückgabe von Ländereien und Besitztümern oder um Restitutionszahlungen, wie sie die Preußische Treuhand fordert, kann es heute nicht mehr gehen. Man kann das eine Unrecht nicht mit einem nächsten ungeschehen machen. Es muss aber offen diskutiert werden können, ob nicht ein Ort der Erinnerung und des Gedenkens, bestenfalls in Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Vertriebenenverbänden und -interessengruppen, geschaffen werden sollte.


Titelbild

Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945.
Siedler Verlag, München 2008.
430 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783886808618

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