Zwischen Experiment und Meditation

Zur Ausgabe von Gerhard Rühms visueller Poesie

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Rahmen der "gesammelten werke" von Gerhard Rühm liegt jetzt der Teilband 2.1 "visuelle poesie" vor, der von Monika Lichtenfeld herausgegeben worden ist. Sie weist in ihrem editorischen Nachwort darauf hin, dass es sich um eine "kommentierte Lese- und Studienausgabe" handele, die in enger Kooperation mit dem Autor zustande gekommen sei.

Der Band enthält, gegliedert in achtzehn Werkgruppen, rund 680 Arbeiten, von denen fast die Hälfte erstmals präsentiert wird und die einen über ein halbes Jahrhundert währenden Schaffensprozess dokumentieren. Die umfangreichsten Kapitel sind die "schreibmaschinenideogramme" (S. 7-76), die "typocollagen" (S. 87-234) und die "schriftzeichnungen" (S. 297-540), die als einzige den gesamten Zeitraum von Rühms Arbeitszusammenhang umfassen. Die Abfolge der Werkgruppen orientiert sich daran, wann die jeweilige Arbeitstechnik dominant wurde. Innerhalb der einzelnen Kapitel wurde eine chronologische Anordnung angestrebt. Lichtenfeld teilt mit, dass bei der Zusammenstellung des Materials vor allem technische Aspekte eine Rolle gespielt hätten. Diese editorische Entscheidung findet ihre Berechtigung darin, dass Rühm selbst in seinen poetologischen Begleittexten häufig auf die technische Seite der Herstellung zu sprechen kommt und auf diesem Sektor die wesentlichen Differenzierungen vornimmt.

Bereits im ersten dieser Texte über seine Schreibmaschinenideogramme und Fototypogramme geht Rühm auf die spezifischen Möglichkeiten der Schreibmaschine ein (zum Beispiel die Technik des Übereinandertippens, die Lockerung des Zeilenrasters, die Faltung des Papiers zwecks Zerrung oder Streuung des Textes) und leitet aus deren bewusster Anwendung eine "Poetik der Schreibmaschine" ab, die für das Entstehen der Texte konzeptionell entscheidend sei. Je nach materieller Beschaffenheit der künstlerischen Produktionsmittel variiert das Verhältnis von ästhetischer Autonomie und Heteronomie. Bei Collagen, Zeitungsrissen und Bildgedichten aus zerschnittenen Zeitungsbildern liegt die gestalterische Autonomie weitgehend beim künstlerischen Akteur. Hingegen führt Rühm am Beispiel seiner Schrifttuschen und Tuschtypocollagen aus, dass die abschließende Gestalt der Werke stets das Ergebnis eines Prozesses sei, "der noch über den malakt hinausreicht und von zufälligkeiten, von äusseren bedingungen wie sättigungsgrad des pinsels, tempo des farbauftrags, beschaffenheit und feuchtigkeit des papiers abhängt." Entsprechend variieren auch die Anregungen zur ästhetischen Produktion, die Rühm aufgreift. Für die Techniken mit einem hohen Grad an Konstruktivität orientiert er sich an Piet Mondrians Begriff der ,Neuen Gestaltung', die Verfahren hingegen, bei denen arbiträre äußere Faktoren eine größere Rolle spielen, stellt er selbst ins Zeichen zen-buddhistischer Traditionen.

Einen besonderen Stellenwert nehmen unter Rühms Produktionstechniken die meditativen ein. Hier schließt er explizit an die Parapsychologie von Rudolf Tischner an, die für ihn den Weg zu seinen automatischen Schriftzeichnungen und skripturalen Meditationen erschlossen hat. Tischner habe das Phänomen der psychischen Automatismen erforscht, die sich ohne Beteiligung des Willens in psychosensorischen und psychomotorischen spontanen Äußerungen manifestierten. Diese Zustände des psychischen Automatismus wirkten als "methode zur aktivierung des latenten kreativen potentials" und mündeten, ausgestattet mit Schreibgerät und Papier, in schwingende, manchmal dynamische Linien. Rühm spricht hier auch von ,Blindzeichnungen' und macht an ihnen die Beobachtung, dass Blätter, die mit Schrift begonnen haben, in Zeichnungen übergehen und umgekehrt. An dieser Stelle ist es interessant, dass Rühm mit seiner Charakteristik des fließenden Wechsels von Schrift zu Bild und von Bild zu Schrift bei einer meditativen Grundhaltung in die Nähe der kunsttheoretischen Maximen des Malers und Kunsterziehers Adolf Hölzel gerät. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Hölzel die Methode entwickelt, in meditativer Versenkung durch rhythmische Schreibbewegungen schöpferische Impulse zu wecken und sich in einen Schreib- und Zeichenakt einzuschwingen. Im Ansatz verfügen daher auch einige von Rühms Schriftzeichnungen über die Ambiguität von Hölzels Schriftsockelblättern, ohne freilich bis zu ihrer Diskursivität und Gegenständlichkeit fortzuschreiten. Rühm legt in diesem Zusammenhang Wert auf die Differenz zur écriture automatique des Surrealismus, die für ihn bloß das Hilfsmittel zu einem Ausstieg aus den eingeschliffenen Denkbahnen darstellt, aber keine konsequent angewandte Methode.

Über Sujets lässt sich im Falle von visueller Poesie naturgemäß wenig sagen, steht doch das Experimentieren mit technischen Verfahren zur Gewinnung neuer künstlerischer Formen im Vordergrund. Sinnbezüge werden gelegentlich durch Titelgebung geschaffen, wie etwa bei der Schriftzeichnung "Vier Arten den Regen zu beschreiben" mit der Anspielung auf ein Quintett von Hanns Eisler. Auffällig ist allerdings, dass immer wiederkehrende sprachliche Partikel bestimmte konstitutive Beziehungen innerhalb von Rühms visueller Poesie stiften. Diese sprachlichen Partikel sind die Wortpaare ,ich-du', ,ja-nein' beziehungsweise ,yes-no' oder das Satzzeichenpaar ,!/?'. Außerdem kehren die Worte ,und' und ,jetzt' häufig wieder. Man kann aus diesem Basisvokabular von Rühms visueller Poesie ableiten, dass es ihm um elementare Konstellationen, um die Komplementarität von Gegensätzen, um Verbindungen, Trennungen und Vergegenwärtigung geht. Die Beispiele für konvergente oder divergente Bewegungen der Schriftzeichen, für die Verschlingung oder Kontrastierung von ich und du sind zahlreich.

Das am häufigsten als Ausgangspunkt oder alleiniger Gegenstand der Schreibbewegung beziehungsweise typografischen Anordnung gewählte Wort ist ,ich'. Rühm setzt es zur konstellativen Selbstamplifikation ein, und er benutzt es bei seinen Experimenten mit extrem akzelerierten Schreibbewegungen. Gleichzeitig steht neben diesen Versuchen zur räumlichen und zeitlichen Selbstvervielfältigung die grafische Einrahmung durch die Buchstaben ,n' und ,ts', die das Ich quasi visuell annihilieren. Diese Auslotungen des Ichs mittels diverser Techniken gehört zu den Kontinuitäten in Rühms visueller Poesie. Ebenso zählt dazu die Verwendung von pin-ups, die zugleich die Wandlung der Darstellung weiblicher Aktfotos in den Printmedien und die Stabilität von Rühms kleinbürgerlichen Männerphantasien dokumentieren.

Der Band 2.1 der Gesammelten Werke ist großzügig ausgestattet und liefert einen ausgezeichneten Überblick über die Bandbreite von Rühms visueller Poesie auf der Schwelle von Text und Bild. Dennoch muss man den Einwand erheben, dass das gewählte Papier für eine wirklich angemessene Wiedergabe von Rühms teilweise kräftige Strichführung nicht dick genug ist. So gibt es in der Abteilung der Schriftzeichnungen etliche Fälle, in denen die jeweiligen verso-Zeichnungen auf eine störende Weise durchscheinen.


Titelbild

Gerhard Rühm: Visuelle Poesie. Gesammelte Werke 2.1.
Herausgegeben von Michael Fisch.
Parthas Verlag, Berlin 2006.
828 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3936324425

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