Zauber der Luftgitarre

Eine Anthologie versammelt Stories mit und ohne Beat

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"That's one thing about my life", lässt Roddy Doyle die Protagonistin seines Romans "The Woman Who Walked Into Doors" (1996) sagen, "it has a great soundtrack". "Der Soundtrack unseres Lebens" - so ist auch die Anthologie "Beat Stories" überschrieben, die Thomas Kraft dieses Jahr im kleinen Münchner Blumenbar-Verlag herausgegeben hat. Dahinter verbirgt sich eine Sammlung von 79 kurzen Texten über die Rockmusik der 1960er- und 1970er-Jahre. Für diese liebevolle Hommage hat Kraft Erfolgsautoren wie Ingo Schulze, Jan Weiler und Helmut Krausser, avancierte Schriftsteller wie Franzobel, Barbara Honigmann und Bert Papenfuß, aber auch viele weniger bekannte Namen gewinnen können. (Fast) jedes Kapitel ist einer Band, einem Sänger oder einer Sängerin gewidmet, und (fast) alle großen Namen der Zeit sind vertreten, von Cream bis Leonard Cohen, von den Stones bis zu den Stooges. Eine solche Sammlung hat es in der deutschen Literatur noch nicht gegeben.

Doch schon der Titel macht stutzig: Wenn es hier um Rockmusik geht, warum heißt das Buch dann "Beat Stories"? Die amerikanische Beat Generation kommt gar nicht vor, und auch die britische Popmusik der mittleren 1960er-Jahre steht nicht im Zentrum des Interesses. Vielleicht will Kraft die Termini "Rock" und "Pop" vermeiden? Rock, das klänge halt nach Jeansjacken, Bier und Achselschweiß, und "Popliteratur" ist gerade nicht en vogue. Benjamin von Stuckrad-Barre, Rebecca Casati oder Christian Kracht gelten eher als Schnee von gestern, unabhängig davon, dass einige ihrer Texte eine hohe Qualität besitzen und andere nicht. Das Präfix "Beat" sollte man vielleicht als Eingemeindung verstehen, wie im Wort "Beatschuppen" oder bei der TV-Sendung "Beat Club", in der später auch denkbar beatferne Bands wie Black Sabbath oder King Crimson auftreten durften.

Beginnt man mit der Lektüre, stellt sich aber keineswegs die gewünschte Epiphanie oder auch nur eine ästhetische Befriedigung ein. Stattdessen herrscht gepflegte Langeweile vor. Erzählerisch ist das Buch alles andere als aufregend: Das Bild wird dominiert von offenbar ungebrochenen autobiografischen Statements oder einfachen, ebenso autobiografisch gefärbten Erzählungen. Auch darum ist dies kein Pop: Wie etwa Eckhard Schumachers Studie "Gerade. Eben. Jetzt: Schreibweisen der Gegenwart" (2003) oder seine gemeinsam mit Kerstin Gleba herausgegebene Anthologie "Pop nach 1964" (2007) zeigen, ist "Pop" in der deutschsprachigen Literatur nicht nur eine Sache der Jahrtausendwende. Vielmehr ist er Sammeletikett für eine Vielzahl avancierter Schreibweisen seit den 1960er-Jahren, von der Beat-Nachfolge Jörg Fausers und den an William S. Burroughs geschulten Cut-Up-Texten Bernward Vespers bis hin zu den komplexen Diskursmontagen Thomas Meineckes und den Dandyismen der "Tristesse Royale". Diesen Grad künstlerischer Selbstreflexion, diese ästhetische Avanciertheit können die meisten Beiträge dieses Erzählbande nicht erreichen. Nur selten wird das Schema verlassen, etwa wenn Marlene Streeruwitz hilflos zwischen den Doors, sowie den Themen Vietnam und Zweiter Weltkrieg laviert und dabei grandios scheitert. Wenn sich einschlägige Pop-Autoren wie Meinecke (über Roxy Music) beteiligen, spulen sie eher routiniert ihren üblichen Stil ab. Aber immerhin ist es Meinecke, der auch auf die "Gemachtheit der Popmusik", ihre "beunruhigende Künstlichkeit" hinweist, und damit die pure Affirmation der meisten Autoren durchbricht. Auch sprachlich ragt nur weniges heraus, so etwa Franz Doblers stream-of-consciousness-artiger Beitrag über Soft Machine.

Typisch für den Ton des Bands sind die einfachen Wahrheiten. Das klingt dann wie bei Jan Koneffke: "Die Musik meines Bob Dylan war das schlichtweg andere in dieser trostlosen, protestantisch-braunen und grenznahen Provinzstadt, in der noch das Klima der frühen sechziger Jahre herrschte. [...] Bob Dylans Englisch gegen das Schullatein. Bob Dylans Antikriegslieder gegen die Kriegsverherrlicher des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums. Bob Dylans näselnde Stimme gegen Operntenöre, seine Mundharmonika gegen Streichorchester". Oder wie bei Ferdinand Schmatz' Weisheiten über Led Zeppelin: "Du und ich, wir alle. Das war der Rausch. Das war die Erlösung einer Situation, die keiner Erlösung bedurfte, da sie nicht von Verzweiflung herrührte, sondern so etwas wie Sehnsucht war, Sehnsucht nach dem Ganzen, das im Herzen wie im Geschlecht saß [...]. Und dazu die Melancholie des Vergangenen, das Pathos des Untergangs - und des Aufbruchs auch: wir machen es, auch wenn es zu nichts führt". Was er mit der "hart-weiche[n] Umfasstheit" der Band meint, weiß allerdings wohl nur der Hammer der Götter.

Möglicherweise schwebte Kraft etwas Ähnliches vor wie Nick Hornby in seinen virtuosen "31 Songs" (2003). Dort gelingt es dem britischen Romancier, Verbindungen zwischen Popsongs und dem eigenen Leben aufleuchten zu lassen, etwa wenn er bei Badly Drawn Boys bewegendem "A Minor Incident" den Bogen zur Geburt seines behinderten Sohnes und der Trennung von seiner Frau schlägt. Das ist keine Weltliteratur, aber ein furioses, gelungenes Stück medialer Autobiografie - was Kraft mit seinem Sammelband wohl gleichfalls vorhatte. Wenn seine Autoren aber Auskunft über die eine entscheidende Begegnung mit der Musik geben sollen, beschränkt sich der Horizont dabei fast ausnahmslos auf die schwierigen Altersjahre zwischen 12 und 17. Meistens schreiben sie von unverstandenen, desorientierten jungen Menschen, die durch das Hören eines Musikstückes plötzlich wissen, wohin ihr Weg führt. Bei einem Teil von ihnen stellt sich diese Überzeugung später als Illusion heraus, aber in diesem Moment der Erleuchtung sind sie eingenordet wie eine Kompassnadel.

Dutzende von Kurztexten legen Zeugnis für dieses Muster ab. Traurigerweise lässt daher schon die schiere Masse der Texte das Objekt der Begierde beliebig erscheinen: Ob Queen oder Eric Clapton begeistern, ob das lasche Westcoastimitat Lake oder der kantige Progressive Rock von Van der Graaf Generator zum Objekt der Begierde werden, das wird damit letztlich so wurscht wie gleichgültig. Dass die meisten Autoren ihrem Thema nicht mehr Nuancen abgewinnen, mag aber auch dem Platzmangel geschuldet sein. Ehe sie ihr Thema entfalten können, ist ihr Text auch schon wieder vorbei. Zwanzig Texte hätten möglicherweise einen gelungeneren Band abgegeben als sechseinhalb Dutzend.

Bedauerlich ist auch, dass sich das Buch ohne Not auf die "Songs der sechziger und siebziger Jahre" beschränkt, und so vor der ästhetischen Wasserscheide Punk zurückschreckt. Natürlich hat Kraft recht, wenn er die stilbildende Wirkung der Ära zwischen den Beatles (Tanja Dückers) und den Dire Straits (Frank Goosen) betont. Aber auch wenn die Jahre zwischen 1962 und 1975 das grundlegende Instrumentarium entwickelten, mit dem große Teile der Rockmusik bis heute operieren, ignoriert Krafts Anthologie, dass andere Hörer auch jüngere Musik mit einer Intensität erleben, die hier nur dem Classic Rock vergangener Dekaden zugestanden wird. Warum sollte musikalische Erleuchtung nicht mit Sonic Youth oder Franz Ferdinand, mit Nelly Furtado, Rufus Wainwright oder Radiohead funktionieren?

So aber manövriert sich das Buch ungewollt und ohne Not in eine Position ungebrochener Nostalgie, mit der man sich auch den "Förster vom Silberwald" ansehen könnte, wenn es einen nur in die verflossene Jugend zurückversetzt. Folgerichtig schreibt Franzobel: "Die alten Nazis hatten die Hitlerjugend, und wir haben den Pop, Pink Floyd, die Beatles und die Stones". Wie, bitte, soll man das verstehen? Etwa so, dass Syd Barrett als Musiker nicht schlecht war, aber die Autobahnen wenigstens nicht gebaut hat?

Apropos Punk: Selbst ich als bekennender King-Crimson- und Yes-Hörer kann die befreiende Wirkung anerkennen, die von der radikalen Ästehtik der 1977er-Schockwelle ausging. Für mich und viele Altersgenossen verkörperte später Nirvana eine solche Befreiung, endlich unsere eigene Musik, nicht mehr die der älteren Brüder und Schwestern. Ein Zeichen, dass endlich die doofen 1980er-Jahre vorbei waren, mit ihrem antiseptischen Schulterpolster-Funk, ihrem Haarspray-Hardrock, ihrem billigen Synthie-Pop mit Playmobil-Bläsern...

Das ist vielleicht doch eine Stärke des Buches: Diese Erzählungen fordern den ebenfalls durch Rockmusik sozialisierten Leser heraus, Position zu beziehen und sich seine eigene Geschichte dazuzudenken. Doch damit setzt man den vielen autobiografischen Erzählungen nicht etwa etwas entgegen, sondern fügt ihnen nur noch eine weitere Geschichte hinzu.

Man sage nicht, dass Rockmusik kein literarisches Sujet abgebe, oder dass das zumindest auf Deutsch unmöglich sei: In seinem surrealen Amerika-Roman "Starfish Rules" (1997) lässt Tobias O. Meißner Jimi Hendrix' Klanggewitter im US-Radio der 1930er-Jahre rauschen. Auch der ansonsten halbgare Nachfolger "HalbEngel" (1999) um die fiktive Band Mercantile Base Metal Index überzeugt mit seiner Sprachkraft immer dann, wenn die Musik seiner Protagonisten beschrieben wird. Franz Dobler veröffentlichte eine fantastische Johnny-Cash-Biografie (2002) und Navid Kermanis brillantes "Buch der von Neil Young Getöteten" (2002) erzählt von der Erhabenheit und dem spirituelle Potenzial der Musik. Andreas Neumeister jongliert in "Gut laut" (1998) gekonnt mit Disco- und Krautrock-Listen. Jedes einzelne dieser Bücher ist um Längen besser als "Beat Stories", trotz aller Liebe und Hingabe, die Herausgeber und Verlag ohne Zweifel in dieses Projekt haben fließen lassen. Wer will, kann hier also nachlesen, was sein Lieblingsautor - nur zwölf der 79 Beiträge stammen von Frauen - einstmals als Langhaariger gehört hat. Für alle anderen ist es Formatradio für die Augen.


Titelbild

Thomas Kraft (Hg.): Beat Stories.
Blumenbar Verlag, München 2008.
382 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783936738360

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