Tragik als unbewusster Selbstzweck

Miriam Katins Familiengeschichte des Holocaust als graphic novel

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mehr Anfang hat es nie gegeben. Der von "Allein unter allen" beginnt mit dem Allerersten: der Bibel. Vom Dunkel heben sich Zeichen ab, es sind hebräische, sie gehören zu der Schrift, aus der eine Mutter ihrer Tochter vorliest. Den Sinn des Bibel-Beginns hätte Hegels "Philosophie von der Sprache her" (Liebrucks) auch nicht besser in Worte fassen können. Aber dann kehrt die Dunkelheit zurück: Vor den Blick aus dem Fenster schiebt sich eine übergroße Hakenkreuzfahne, deren schwarze Balken die Sicht sukzessive verdunkeln.

Das darstellerische, technische wie reflexive Niveau dieses fulminanten Anfangs erreicht diese graphic novel leider nie wieder. Es folgt die chronologische Erzählung der Verfolgung der jüdischen Familie der Autorin in den Jahren 1944/45, die dem Geschehen nicht im geringsten gerecht wird. Mutter und Tochter fliehen aus Budapest übers Land, zunächst vor den Deutschen, dann vor den Sowjettruppen, die Mutter wird immer wieder zu sexuellen Handlungen gezwungen, und am Ende findet die Kleinfamilie in Budapest wieder zusammen.

Gibt es also ein Happy End? Die Familie ist wieder vereint, hadert aber mit Gott. Gerade sind sie sich in die Arme gefallen - und schon beginnt gleich wieder ein religiöser Diskurs, der sich durch die ganze Geschichte zieht, an dieser Stelle aber besonders unglaubwürdig wirkt. Der partielle Verlust des Glaubens scheint für die Familie am schlimmsten zu sein.

Die Erzählung der Jahre 1944/45 in Schwarz-Weiß-Bildern nimmt den größten Raum ein, zwischendurch wird sie von kurzen Sequenzen in Farbe durchbrochen, die in den Jahren 1968-72 in New York spielen, als die Autorin ihr eigenes Kind hat. Die Glaubenskrise wird in der nächsten Generation fortgesetzt, als die religiöse Erziehung des Kindes beginnt.

Zwischen Anfang und Ende liegen über hundert Seiten ohne erzählerisches wie darstellerisches Talent, die so unbeholfen sind, dass es einem nahezu peinlich ist. Die Geschichte ist groß, aber Katin hat offenbar nichts zu erzählen, denn viele Panels sind überflüssig; Menschen begrüßen sich oder sagen, dass sie Tee holen. Sie erzählt auch nicht in Bildern, sondern bebildert nur den erzählenden Text, mit dem sie dann die Bilder zu Tode kommentiert. Die Zeichnungen scheinen den naiven Stil der 1950er-Jahre zu kopieren, die Gesichter sind dann entweder aufgeräumt, weil gut gelaunt, oder aber so melodramatisch, dass in ihnen alles auf ein umgedrehtes spitzes V gebürstet scheint.


Titelbild

Miriam Katin: Allein unter allen. Erinnerungen von Miriam Katin.
Übersetzt aus dem Englischen von Jutta Harms.
Carlsen Verlag, Hamburg 2007.
129 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783551750464

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