Ecrasez l'infame!

Bei der Aufarbeitung seines Missbrauchs begeht Olivier Ka einen virtuellen Mord

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der kleine Olivier wächst in zwei Welten auf, in der seiner Großeltern und in der seiner Eltern. Seine Eltern sind Hippies, die sich für das einfache, autarke Landleben und Anti-Autoritarismus begeistern und die Kirche ablehnen. Aber sie lassen es auch zu, so bemerkt der autobiografisch tätige Autor Olivier Ka selbst, dass ihr Sohn bei seinen Großeltern kirchlich indoktriniert wird. Früh vergiften diese ihn mit sexueller Prüderie und nutzen einen seiner Aufenthalte bei ihnen, um ihn ungefragt zur Kommunion zu schicken. Gegen vieles lehnen sich Oliviers Eltern auf, nur der Konfrontation mit ihren eigenen Eltern gehen sie aus dem Weg. Ihr Aussteigertum ist ein Ausweichen, kein Widerstand, eine von langen Locken gerahmte Chimäre.

Aber diese graphic novel ist keine weitere '68er-Schelte. Auch wenn beide Welten Olivier etwas gaben, so ist nur die Welt der Kirche für Olivier zerstörerisch, das laisser-faire der Hippies leistet - ,nur', für ihn aber fatal - Beihilfe qua Sorglosigkeit. Der Abbé Pierre besetzt eine ähnliche Zwischenposition wie Olivier: Er ist Kleriker - aber ein junger, fröhlicher, gemütlicher, rundlicher, kein anämisch-lebensfeindlicher wie die Priester, die Olivier aus dem Gottesdienst kennt. Er ist "ein ,linker' Priester. Er ist cool." Er ist witzig, ein "Kumpel" mit Gitarre, Vollbart, breitem Dauergrinsen und einem Abo auf launiges Gutdraufsein - also das, wovor man sich in Acht nehmen sollte. Man muss Oliviers Eltern vorwerfen, dass sie darauf nicht einmal hereingefallen sind, sondern sich dieser schlimmen Kompromissbildung von katholischer Herkunft und politisch-lebensreformerischem Aufbruch sogleich erleichtert an den Hals geworfen haben. Wären sie nicht bloß Hippies gewesen, sondern hätten sie ihrem Protest auch ein vernünftiges Selbstbewusstsein geben können, dann hätten sie ihrem Sohn viel Leid erspart.

Denn Abbé Pierre lädt Olivier im Altern von zehn Jahren ein, mit in sein Kinder- und Jugendlichen-Ferienlager zu kommen. Zwei Jahre später fädelt Abbé Pierre den Missbrauch Oliviers so widerwärtig-geschickt ein, als hätte er ein Handbuch für Päderasten geschrieben. Die Darstellung des Missbrauchs zieht sich quälend über zehn Seiten. Der Panel-Text von Olivier Ka lässt keine Zweifel, die Zeichnungen von Alfred hingegen zeigen nichts, nur einen sich zunehmend verfinsternden Horror, der über einen sich in Schemen auflösenden Jungen hereinbricht.

Am Morgen danach ist die Schwärze verschwunden, die Bilder und Linien sind wieder klar. Es ist alles wie immer, die anderen Kinder im Schlafzimmer sind noch da, Abbé Pierre wartet draußen mit dem großen Hund für den Morgenspaziergang und mit der Aufarbeitung des Missbrauchs: Es war nicht in Ordnung, lässt er Olivier sagen und nutzt das als Basis, um dem kleinen Jungen das Versprechen abzuringen, dass es ihr Geheimnis bleibt.

Das Leben geht weiter, so wie immer. Dass sich im Leben etwas verändert hat, dass in Olivier etwas zerstört wurde, wird erst später deutlich. Olivier wird älter und zum Anarcho und ,Rumtreiber', vor allem aber zu einem fanatischen Kirchen-Hasser, der sich die "Gottesvergiftung" (Tilmann Moser) buchstäblich aus dem Leibe zu kotzen versucht. Im Alter von 35 Jahren, als seine Tochter im gleichen Alter ist wie er damals, als er missbraucht wurde, weicht er seiner Traumatisierung nicht länger aus, um seinen seelischen Problemen Herr werden zu können. Sein Therapieversuch besteht darin, zu schreiben. Zwei Jahre später ist er so weit, zu wagen, zusammen mit einem eingeweihten Freund den Abbé Pierre zu konfrontieren.

Olivier Ka variiert nun häufig die darstellerischen Mittel; nicht nur, um unterschiedliche Stimmungen zu visualisieren, sondern auch um Modi der Realität und um Veränderungen in ihr deutlich zu machen. Der Weg zum alt gewordenen Abbé Pierre besteht aus in Panels gefassten Fotos, die in reduzierte Zeichnungen wechseln, als es zur Begegnung kommt. Von dem langen Spaziergang, auf dem Olivier dem Abbé Pierre alles erzählt, sehen wir nur nachcolorierte Landschaftsbilder. Abbé Pierre muss Oliviers Geschichte lesen und sich seinem Verbrechen stellen, das nun publik geworden ist. Nach dem Spaziergang kehrt Olivier Ka zu den üblichen Comic-Panels zurück, aber die Figuren lösen sich nach und nach auf, werden strichhafter, verlieren Kontur und Farbe. Der Abbé Pierre in Olivier ist tot.


Titelbild

Olivier Ka: Warum ich Pater Pierre getötet habe.
Übersetzt aus dem Französischen von Martin Budde.
Carlsen Verlag, Hamburg 2008.
112 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783551787422

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