Menschen im Hotel

Markus Orths' Roman "Das Zimmermädchen" pendelt zwischen Subtilität und Klischee

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Zweifel, Markus Orths ist einer der profiliertesten Autoren seiner Generation. 1969 geboren, hat er sich innerhalb weniger Jahre in die vorderen Ränge des deutschsprachigen Literaturbetriebs geschrieben. Das größte Aufsehen erregten die Satire "Lehrerzimmer" (2003) und der historische Roman "Catilina" (2006), der in diesem Genre nicht nur sprachlich herausragt, sondern es sogar auf den amerikanischen Büchermarkt geschafft hat. Seitdem er veröffentlicht, ist aus Orths im Handumdrehen ein vielfach preisgekrönter Autor geworden. Kein Wunder also, dass er in diesem Jahr beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb reüssieren konnte. Publikum und Jury waren von seinem Text derart angetan, dass er mit dem Telekom-Austria-Preis nach Hause gehen durfte.

Der Text, aus dem Orths in Klagenfurt las, heißt "Das Zimmermädchen", und liegt nun auch in Buchform vor. Es beginnt ganz unspektakulär: Eine junge Frau verlässt ein Gebäude. Doch schon nach kurzer Zeit bemerkt man, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Gebäude handelt, sondern um eine Psychiatrie, in der Lynn Zapatek - so ihr Name - gerade ein halbes Jahr verbracht hat. Warum? Wir wissen es nicht, und es ist auch nicht entscheidend, auch wenn man sich kurz an Franz Biberkopfs Abschied aus der Strafanstalt Tegel erinnert fühlt. Wichtig ist für Lynn, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen gewinnt, Orientierung findet. Ihr Ex-Freund Heinz besorgt ihr eine Stelle im Hotel Eden. Lynn wird das titelgebende Zimmermädchen.

So weit, so unspektakulär. Mit Lynn aber hat es eine besondere Bewandtnis: Zu Heinz, weiß sie, sind es 1748 Schritte. Sie folgt anderen Menschen im Supermarkt und bepackt ihren Wagen mit exakt denselben Waren. "Sie weiß genau, wie wichtig es ist, eine Aufgabe zu haben [...] wenn sie nichts tut, wenn sie nur rumhängt, wenn die Fülle Freizeit sie zum Nachdenken und das Nachdenken sie zum Gefühl der Sinnlosigkeit und das Gefühl der Sinnlosigkeit sie zur Suche nach dem Reiz und die Suche nach dem Reiz sie zum Verbotenen treibt, so lange, bis sie nicht mehr anders kann, als loszuziehen und das Verbotene zu tun."

Lynn ist Zwangsneurotikerin, sich selbst und ihrem Körper fremd. Die Stelle im Hotel gibt ihr vorerst die Chance, den inneren Drang mit obsessivem Putzen zu kanalisieren. Sie scheuert, wo andere keinen Dreck mehr sehen, sie bleibt über ihren Feierabend hinaus, sie will nicht einmal in Urlaub fahren. Orths beschreibt seine Protagonistin akribisch und fast liebevoll. Lynn ist eine traurige, durch und durch glaubwürdige Figur, die in ihrer Einsamkeit, ihrer Furcht vor Nähe und der gleichzeitigen Angst, in der Anonymität verloren zu gehen, wohl auch emblematisch für unsere Gegenwart stehen soll. Nicht umsonst ist Charlie Chaplins "Modern Times" (1936) ihr Lieblingsfilm.

Lynns Perspektive ist die Stärke des Romans: ihre Obsessionen erlauben Orths Detailbeschreibungen zu liefern, die in ihrer atmosphärischen Dichte manchmal an Peter Handkes gelungenere Texte heranreichen: "Wenn jemand eine Fluse wegbläst oder ihm Haare in die Stirn fallen, oder wenn Lynn am Bildrand etwas sieht, über das sie nachdenken kann, ein Requisit, das scheinbar achtlos dorthin gestellt wurde, die Kamera hält es nicht mal für nötig, länger darauf zu verweilen, sie schwenkt nur drüber weg, ein Tischfußballspiel, nicht aufgebaut, hinter die Tür gelehnt, eine rosa Schleife um den Henkel eines Mülleimers, ein umgekipptes, trockenes Tintenfass, ein Parka an der Garderobe, eine eingeritzte Liebeserklärung im Baum, unlesbar, eine Schaukel im Hintergrund, die sich noch leise bewegt, als wäre gerade ein Kind abgesprungen und vom Spielplatz fortgerannt [...] was für ein Kind könnte dort geschaukelt haben, und warum ist es so schnell fortgerannt, und hatte es Angst?" Noch überzeugender wird dieser Blick für's Detail, wenn Lynn die Einzelheiten der geputzten Zimmer beschreibt, die für den normalen Gast identisch aussehen, schwarze Flecken, bröckelndes Silikon, aus Lampenschirmen hängende Fäden. Das klingt nicht gerade aufregend, aber Orths erzählt so leicht und mühelos, dass man gerade an solchen Stellen gebannt weiterliest.

Der eigentliche Kniff des Romans liegt aber in der Neugier und Zudringlichkeit, mit der Lynn in das Leben ihrer Gäste eindringt. Zunächst durchsucht sie nur ihre Habe, dann zieht sie deren Kleider an, und schließlich geschieht es, dass in einem solchen Moment ein Gast ins Zimmer zurückkehrt. Sie flüchtet unters Bett. Von nun an verbringt sie jeden Dienstag unter dem Bett von Zimmer 304 und belauscht das Leben der Hotelgäste. Aus ihrer Perspektive erzählt klingt das ganz unverfänglich, aber es ist für den Leser zutiefst beunruhigend.

Hier belauscht sie auch den Sex eines Gastes mit einem Callgirl, das sie mehr und mehr fasziniert. Lynn verliebt sich. Und genau hier wird der Roman problematisch. Während Lynns Verliebtheit an sich glaubwürdig scheint, grenzt die Beschreibung des Callgirls ans pornografische Klischee: "Ich steh auf Frauen, flüstert Chiara, nicht verführerisch, nicht lügnerisch [...] und du, fragt Chiara, schon mal mit ner Frau zusammen gewesen, nein, sagt Lynn, und Chiara streichelt mit der Rückseite ihrer Hand Lynns Wange, ihre gefächerten Finger fahren durch Lynns Haare, während Chiaras Mund sich öffnet [...] sie hat alles um sich her vergessen, sie sagt, mach weiter, dann sagt sie nichts mehr, ist nur noch Körper, der spürt und die Kontrolle verliert".

Vielleicht lässt sich so etwas überhaupt nicht überzeugend erzählen? Würde es auf den Rezensenten anders wirken, wenn der Roman von einer Autorin stammte? Die britische Comedyserie "Coupling" nennt jedenfalls diese Sorte von Filme, die von Frauen handeln, aber für Männer gemacht sind, "Lesbian Spank Inferno". Davon ist die Beschreibung der Affäre leider nicht weit entfernt.

Auch wenn diese amour fou - man ahnt es bereits - nicht zu einem glücklichen Ende führt, kann sie auch diesen insgesamt gelungenen Roman nicht gänzlich verderben. Inmitten der subtilen Charakterzeichnungen, der tiefen Traurigkeit und Einsamkeit der Figuren, der eigenständigen, liebevollen Beschreibungen bleibt sie gleichwohl ein erratischer Block. Er verhindert, dass aus einem guten Roman ein sehr guter wird.


Titelbild

Markus Orths: Das Zimmermädchen.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
144 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783895610998

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