Denkmal der Dichtung

Karl Otto Conradys Gedichtsammlung in der vierten Auflage

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der schieren Größe hat Karl Otto Conrady so seine Probleme. Das von ihm 1977 herausgegebene "Große deutsche Gedichtbuch" erscheint nunmehr in der vierten Fassung unter dem Titel "Der Große Conrady". Die Erklärung für Neubenennung und Namensattribut liefert der renommierte und seit geraumer Zeit emeritierte Literaturwissenschaftler, der unter anderem auch als Goethe-Biograf hervorgetreten ist, gleich zu Beginn seines Vorwortes. Denn neben dem "Großen Conrady" gibt es den "Hör-Conrady", der als Hörbuch etwa die Hälfte der in der Anthologie versammelten Gedichte umfasst, und das dazugehörende Textbuch, den "Kleinen Conrady".

Aber nicht nur innerhalb des Trios kann das Flagschiff des Unternehmens eine gewisse Größe für sich beanspruchen. So enthält "Der Große Conrady" nicht nur den gesamten "Neuen Conrady" von 2000, sondern ist noch einmal um Gedichte, die im Zeitraum zwischen 1999 und 2007 entstanden sind, ergänzt worden und somit um 60 Seiten gewachsen. In der Vergrößerung auf jetzt rund 2.200 Gedichte liegt jedoch auch ein gewisses Dilemma. Denn neu aufgenommen hat der findige Herausgeber meist junge Autoren, die erst nach der Jahrtausendwende mit Gedichten hervorgetreten sind. Dies bedeutet aber, dass die Lyrik von bis in die Gegenwart produktiven Autoren, wie etwa Durs Grünbein, Günter Herburger oder Ludwig Steinherr, nur mit frühen beziehungsweise früheren Beispielen vertreten ist. Vielleicht hätte sich Conrady dabei doch zu einer Umorganisierung durchringen können. Über einige der hier vertretenen Dichter hingegen ist die Geschichte längst hinweggegangen, zumal, nachdem sie als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurden, wie beispielsweise Rainer Schedlinski, der noch 1988 vielsagend dichtete, man könne "alles so oder so sehen".

Zudem wird das Vergnügen über Neuentdeckungen durch einige, zugegeben kaum zu vermeidende Desiderate leicht getrübt. Obwohl einige nicht gerade genuine Lyriker aufgenommen worden sind, wie etwa Herman Lenz, fehlt ein Erzdichter wie der Expressionist Kurt Heynecke.

Allerdings geht es Conrady weder um normative Qualitätsurteile noch um einen Kanon. Wie er in dem umfangreichen Vorwort zur Ausgabe von 2000 begründet, will er dem Leser die "Möglichkeit bieten, sich einen Überblick über die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik in ihrer Mannigfaltigkeit und ihren historischen Gestaltungsformen zu verschaffen". Ein Konzept, das sogar die Aufnahme nationalsozialistischer Reimereien vorsieht.

Insgesamt jedoch gelingt es dem Editor, die Gedichte als vielstimmige und konfliktreiche Debattenrunde zu gruppieren, in der all das zur Sprache kommt, was sich in lyrischer Form auszudrücken versucht und das Clemens Brentano metaphorisch verdichtete: "O Stern und Blume, Geist und Kleid, / Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit."

So finden wir denn auch unter den neu aufgenommenen Lyrikern, unter denen sich erfreulich viele Lyrikerinnen befinden, Themen, die wir längst vergessen glaubten. Viele beschäftigen sich, wie etwa Dagmar Leupold, mit Regionalem ("Geläut. Bayern"), andere, wie Michael Wildenhain, suchen den Dialog mit Vorgängern ("Hälfte des Lebens", "November") und wieder andere führen, wie Michael Lentz, die Sprachspiele der Moderne fort. So ist Conrady, der die Literaturwissenschaft immer und vor allem als historische Wissenschaft verstanden hat, auf jeder Seite des foliantendicken Werkes dem vielgescholtenen Zeitgeist auf der Spur. Mit seinem "Buch deutscher Gedichte" hat der 1926 Geborene sich und der Dichtung ein Denkmal gesetzt, das bleiben wird.


Titelbild

Karl Otto Conrady (Hg.): Der große Conrady. Das Buch deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2008.
1376 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783538040045

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