Flucht in die Sackgasse
Ingeborg Kaisers Roman "Alvas Gesichter" handelt von Suche und Sucht, Abhängigkeit und Aufbruch
Von Liliane Studer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass es so in Strömen regnet, als die Erzählerin zum Künstlerhaus im Tessin fährt, um dort in Ruhe und Abgeschiedenheit an einem Text für ihren Enkel zu arbeiten, könnte ein Zeichen dafür sein, dass dieser Aufenthalt nicht so werden wird, wie sie es sich eigentlich vorgestellt hat. Denn sie, dieses namenlose Ich, bringt in ihrem Gepäck ein blaues Ringbuch mit, ein Tagebuch, ein Bekenntnis einer anderen Frau, das ihr anonym zugegangen ist. Es gelingt ihr nicht, das Buch zu ignorieren. Sie beginnt zu lesen und kann sich je länger je weniger distanzieren von Alva, die hier handschriftlich ihre Alkoholexzesse festhält. Sie schreibt von Kill, der sie beherrscht, ebenso wie von ihrem Ehemann Lauer, ein ständig kontrollierender Pedant, der sie in eine andere Abhängigkeit treibt. Diese Aufzeichnungen, in denen Alva von den widerwärtigen Seiten des Alkoholismus spricht und radikal ehrlich dokumentiert, welch eine selbstzerstörerische Gewalt dem Trinken innewohnt, üben eine schwer fassbare Faszination auf die Erzählerin aus.
Solange sie sich zu Beginn noch vermehrt mit dem Ort, an dem sie sich befindet, und der Geschichte des Malers, in dessen Haus sie arbeiten kann, auseinandersetzt, erkennt sie Parallelen zur eigenen Geschichte, die geprägt ist von Kriegserfahrungen. Die Außenwelt tritt jedoch immer mehr in den Hintergrund. Die Ich-Erzählerin und Alva werden zu einem Paar, das sich nicht mehr trennen lässt. Oder ist Alva sogar das Alter Ego der Ich-Erzählerin? Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Hauptfiguren. Wenn die Erzählerin - die manchmal als Ich spricht, manchmal in der dritten Person - zu Pupa wird, so ihr Name, als sie ein Kind war, und sich auf Alvas Geschichte einlässt, öffnet diese ihr den Weg zu ihrer eigenen. Die Notizen ermöglichen ihr, sich an die Kriegsgräuel und an den Verlust des Bruders, der ihr über all die Jahre gefehlt hat, zu erinnern. Was eigentlich Vergangenheit ist, wird im Künstlerhaus Gegenwart. Die Frau ist einerseits allein, aber andererseits auch nicht, denn mit ihr leben der Maler, Alva und das Kind, das sie einmal war.
Je mehr der Regen den Blick durch die Fenster verschwimmen lässt, desto schärfer wird die Erinnerung. Die Erzählerin wird von Träumen heimgesucht mit Bildern aus der Kindheit. Es gibt kein Entrinnen für sie. Denn nicht nur das eigene Haus, das hätte Schutz bieten sollen vor dem, was einmal war, bricht auseinander. Auch der Hang, an dem das Haus steht, beginnt zu rutschen. Der Boden bietet keinen Halt mehr. Das ursprüngliche Vorhaben, eine Geschichte für Selim, den Enkel, zu schreiben, hat sie aufgegeben, weil sich anderes in den Vordergrund drängt. Die Erzählerin weicht nicht vor dem Problem zurück - höchstens indem sie sich hinter dem Ich versteckt und in der dritten Person erzählt. Oder ist die Ich-Form die weniger bedrohliche?
Ingeborg Kaiser hat mit "Alvas Gesichter" einen eindrücklichen, traurigen, poetischen Roman geschrieben, der die Ausweglosigkeit zweier Frauen durch ihre Abhängigkeit von Alkohol, vom Ehemann, von der Geschichte und letztlich von sich selbst thematisiert. Im Spiel mit den Figuren, in dem die Autorin offen lässt, ob Alva und die Erzählerin die gleiche Person sind, und durch das Schreiben in der Ich-Form, in der dritten Person, oft auch im Konjunktiv, betont sie das Nicht-Eindeutige. Damit lässt sie diesen kleinen Spalt offen, der zum Überleben, ja vielleicht zum Leben führt. Am Ende hat sich das Unwetter verzogen und die Ich-Erzählerin kann sehen, wo sie sich befindet. "Ich bestaune die schimmernde Landschaft, als sei sie neu erschaffen worden. Sehe ein Schauspiel, bei dem langsam das Licht zurückgedreht wird, die lang gezogene Bergkulisse dunkeln, Inseln, Palmen, Bambus und Feigenbaum sich schwärzen, die Silhouette sich vom hellen Himmel abheben. [...] Sehe noch immer das Ewigkeitsspiel von Tag und Nacht und vergesse darüber die Gegenwart, Alva, und unsere kleine Geschichte."
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