Nach 9/11: Rückkehr des Realen - Suche nach Halt

Wahrscheinlich ist die Postmoderne vorbei - was beschäftigt die amerikanische Literatur?

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 soll der amerikanische Schriftsteller Jay McInerney gesagt haben: "I'm glad I don't have a book coming out this month." Damals erschienen nicht nur alle Romane hinfällig, die Nine-Eleven nicht in ihre Entwürfe eingebaut hatten. Das Publikum stand unter Schock und hatte überhaupt alles andere im Sinn, als schöngeistige Literatur zu konsumieren.

Sieben Jahre später: Die Anschläge sind in die literarischen Welten der US-Autoren eingeflossen. Christina Rickli hat die Romane zum 11. September in drei Kategorien gefasst: Da sind erstens Erzählungen, die 9/11 noch irgendwie als "störendes Ereignis" in die Handlung aufgenommen haben. Zweitens gibt es Romane, deren Erzählstrang von 9/11 dominiert wird (etwa Don DeLillos "Falling Man", Jonathan Safran Foers "Extremely Loud & Incredibly Close"). Die dritte Kategorie bilden "Post-9/11-Romane", an denen abgelesen werden kann, wie die Anschläge die Wahrnehmung verändert haben: Paul Austers "The Brooklyn Follies", John Updikes "Terrorist" oder Michael Cunninghams "Specimen Days".

Dann stellt Rickli fest: Amerikanische Schriftsteller scheinen einer "melancholischen Verstimmung" erlegen zu sein. Ihre Stärke liege primär im "Porträtieren von individuellen Traumata". Sentimental und klischeehaft werde auf die Welt vor 9/11 geblickt und ein Rückzug ins Private vollzogen.

Kündigt sich eine Phase der Romantik in den USA an? Wohin treibt die amerikanische Literatur? Ricklis Beitrag ist einer von 20 in dem vom Literaturkritiker Sebastian Domsch herausgegebenen Sammelband "Amerikanisches Erzählen nach 2000". Das Buch wagt eine Bestandsaufnahme zu neuen Trends.

Dass Herausgeber und Verlag nicht generell das Jahr 2001 als Zäsur gewählt haben, ist ein Zugeständnis: Literaturgeschichtliche Brüche sind wohl nicht nur an politischen Ereignissen, sondern an dem Auftauchen neuer Erzählstrategien festzumachen - auch wenn 9/11 ein gewichtiger Katalysator für das Schreiben in den USA ist, wie Rickli zeigt. Als post-postmoderne Tendenz kann aber gelten, dass zeitgenössische US-Schriftsteller das "realistische Erzählen" neu entdecken. Jan Kucharzewski und Lutz Schowalter weisen nach, wie Bret Easton Ellis ("Lunar Park") und Richard Powers ("Plowing the Dark") mit fiktionalen Texturen spielen, ohne Referenten auf das "wirkliche" Leben außer Acht zu lassen. Dabei entsteht keinesfalls ein naiver Realismus. Vielmehr spiegelt diese Entwicklung ein tiefes gesellschaftliches Bedürfnis wider. Ina Bergmann vermutet, "dass sich das Lesepublikum und die Gesellschaft allgemein wieder nach Haltepunkten sehnen".

Dieser Gedanke erklärt plausibel die Rückkehr des Realen in der amerikanischen Literatur und ihre (neue) Verpflichtung gegenüber familiären Werten, wie MaryAnn Snyder-Körber in ihrem Aufsatz zu verstehen gibt - siehe Jonathan Franzens "The Corrections". Außerdem erklärt sich mit dem Bedürfnis nach festen Strukturen in einer chaotischen Welt die Popularität von historical fiction. War das "Ende der Geschichte" und der "großen Erzählungen" das Programm der Postmoderne, so werden erneut große historische Ereignisse thematisiert. Anhand der Bücher von Norman Mailer ("The Castle in the Forest") und William T. Vollmann ("Europe Central") meint beispielsweise Florian Schwieger die Tendenz zu einem größeren Diskurs (über Stalinismus und Faschismus) zu erkennen, der sinnbildend sein könnte - zumal das Geschichtsbewusstsein in globalen Gesellschaften zunehmend zerfalle. Für Lars Schmeink sind die Romane von Margaret Atwood ("Oryx and Crake"), Geoff Ryman ("Air") und M.T. Anderson ("Feed") Beispiele, wie Gegenwartsliteratur politische Kontrollmechanismen und ausbeuterischen Kapitalismus in kritische Gedanken fasst.

Dass soziale Verwerfungen letztlich von Einzelnen getragen beziehungsweise ertragen werden, zeigt sich an "hybriden" Identitätsmodellen, beispielsweise in Jeffreys Eugenides "Middlesex". Astrid Franke analysiert, dass sich den Roman-Protagonisten zwar Wahlmöglichkeiten böten, jedoch nicht ein Gefühl der Autonomie. Anhand der Literatur von DeLillo ("The Body Artist"), Philip Roth ("Everyman") und Richard Ford ("The Lay of the Land") kommt Maria Moss zu dem Ergebnis, dass ein stabiles Selbst zwar hinterfragt, den Figuren aber die Option zur Selbsterneuerung zugebilligt werde.

Neben solchen systematisch motivierten Analysen amerikanischer Romane des frühen 21. Jahrhunderts finden sich in dem Buch Besprechungen von Comics (graphic novels), Augenzeugenberichten zum 11. September und blogs amerikanischer Soldaten. Auch Kinofilme werden thematisiert. Ist das sinnvoll? Daran mag man zweifeln. Denn der Leser soll dieses Werk als "Handbuch zu einem augenblicklichen und hoch aktuellen Zustand der amerikanischen Literatur" verwenden können, wie Herausgeber Domsch vorschlägt. Konsequenter wäre es also gewesen, sich ausschließlich auf Romane zu konzentrieren.

Im Namens- und Werkregister ist schnell zu sehen, welche Autoren und Bücher die meisten Forscher bevorzugen - das sind die auch hierzulande erfolgreichen Schreiber: Franzen und Co. Warum findet sich Cormac McCarthy, der den "american way of life" so schmerzhaft wie kaum ein anderer dekonstruiert - zuletzt in "No Country for Old Men" -, nicht erwähnt in diesem Buch? Und was ist mit dem sprachmächtigen Denis Johnson? Übersehen wird auch Marisha Pessl als junge Vertreterin der New Yorker Literatur. Schade, denn ihr Erstling "Special Topics in Calamity Physics" repräsentiert die gewisse Depression und Traurigkeit, die Zadie Smith so kennzeichnend für die neue Generation amerikanischer Schriftsteller hält (siehe Marco Cassini / Martina Testa, Hg., "Auf der Suche nach Amerika", 2004).

Warum ist dies drin, warum fehlt jenes? Manche mögen solche Fragen müßig finden. Sie sind aber geboten für wissenschaftliche Überblickswerke dieser Art. Spannend hingegen ist der durch die unterschiedlichen Beiträge gewährleistete interdisziplinäre Zugriff allemal - und insofern bietet der Band auch mehr als nur bescheidene "Erstinformationen" (Domsch). Er zeigt nämlich, wie hiesige Forschung die vielfältige amerikanische Literatur betrachtet - nämlich höchst selektiv: Schwerpunkte müssen gesetzt werden. Dennoch ein beachtenswertes Buch, auch wegen seiner Aktualität. Leider - und das ist gänzlich unverzeihlich - sucht man ein Verzeichnis mit biografischen Angaben zu den Verfassern vergeblich.


Titelbild

Sebastian Domsch (Hg.): Amerikanisches Erzählen nach 2000. Eine Bestandsaufnahme.
edition text & kritik, München 2008.
376 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783883779119

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