Lebensaporien

Der letzte Erzählband von David Foster Wallace

Von Maja RettigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja Rettig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der furiose langhaarige Post-Postmodernist David Foster Wallace, Lichtgestalt der zeitgenössischen amerikanischen Literatur, hat sich am 12. September 46-jährig erhängt. Seine Prosa war näher an den zentralen Verwerfungen des westlichen Menschen dran als jede andere; sein schockierter Generationskollege Jonathan Franzen gibt zu Recht zu Protokoll, er sei der Beste gewesen.

In Deutschland war er gerade erst vom Geheimtipp-Kultautor zu größerer Bekanntheit gelangt - obwohl sein deutscher Verlag eher für Missverständnisse sorgt, wenn er zum Beispiel Erzählbände auseinanderreißt: Von den acht Erzählungen aus "Oblivion" (2004) sind unter dem Titel "In alter Vertrautheit" fünf vor zwei Jahren erschienen. Der diesjährige Rest nun heißt "Vergessenheit".

Die Titelgeschichte ist ein mehrbödiges Geständnis zwischen Traum und verzerrter Realität. Ein übermüdeter Mann erzählt zunächst scheinbar handfest vom Schnarchkrieg zwischen ihm und seiner Frau: Sie behauptet, er wecke sie durch Schnarchen auf. Er behauptet, zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geschlafen zu haben. Es geht ums Prinzip; die Nerven und die Ehe sind bereits zerrüttet. Ein Schlaflabor soll schließlich Klärung bringen. Die Ergebnisse sind verblüffend, und das Ende, ein Dialog nach dem Erwachen aus einem Alptraum (aber wessen? Und wann?), stellt die Frage, was überhaupt Realität war und was Traum, noch einmal völlig neu. Zumal der von seiner Unschuld überzeugte Mann zwischen den Zeilen - und das heißt hier: in halbseitigen Einschüben innerhalb zwei Seiten langer Sätze - noch ganz andere Dinge andeutet, die seine Stieftochter betreffen.

Solche Leerstellen und Schwenks, die den Blick auf eine vierte oder fünfte Dimension der Texte öffnen, sind für Wallace typisch; sie verankern den Text tief im Kopf des Lesers. Dabei ist das virtuose Drehen an den Erzählscharnieren nie rein spielerisch - Wallace weiß genau, dass postmoderne Spielchen mittlerweile selbst im Mainstreamkino angekommen sind.

Seine Brillanz zielt immer auf die Wunden, auf existentielle Unlösbarkeiten. Wie geht man mit jemandem um, der aus Versehen einen permanenten Gesichtsausdruck blanken Entsetzens trägt? Wie erträgt man die eigene Bedeutungslosigkeit in großen Unternehmen? Wie sieht es in jemandem aus, dessen Erfolge erklärtermaßen auf reiner Gefallsucht beruhen? - womit er uns mitten hineinzieht ins Heuchler-Paradoxon ("Ehrlich, ich habe mein Leben lang nur geheuchelt").

Auch: Kann Scheiße Kunst sein? In "TV der Leiden" stellt sich die Frage wörtlich: ein Mann scheißt Kunstwerke; ein Klatschreporter will das delikate Thema bei seiner Zeitschrift unterbringen. Daran hängt mindestens die Frage nach der Bewusstheit, außerdem die nach der Intimität von Kunst, wobei sich die geschriebene Kunst in der Arbeit des Klatschreporters spiegelt, der an denselben uramerikanischen Themen interessiert ist wie sein Erfinder. Ein anderer Strang treibt Reality-Tendenzen des Fernsehens über noch bestehende Grenzen: Ein Fernsehmogul, dessen allergrößter Traum es ist, Prominente auf dem Klo zu zeigen, will im Herbst 2001 einen neuen Sender starten, mit unkommentierten "Real-Life-Bildern von den intensivsten Momenten menschlichen Leids". Der 11. September ist angedeutet und doch ausgespart: Noch ist Juli.

Bei aller gedanklichen Schärfe sind die Figuren von maximaler Anschaulichkeit: Die Provinzialität des Künstlers und seiner anmutig fetten Frau genau wie die Gegenwelt der magersüchtigen Redaktionspraktikantinnen im World Trade Center. Stets ersteht das gewählte Milieu so genau, als hätte der Autor dort ein Jahr lang undercover recherchiert.

Man muss natürlich beide Teilbände lesen (vielleicht besorgt man sie sich ja in der Leihbücherei). "Oblivion" ist Wallaces letztes Buch. Das Ende einer Geschichte führt in einer raffinierten Volte von einem Ich, das gegen einen Brückenpfeiler gefahren ist und die Geheimnisse des Sterbens lüftet, zu David Wallace, der ungläubig vor dem Selbstmord dieses Highschool-Sonnyboys steht - er hatte ihn "in bester menschlicher Tradition für glücklich gehalten" und malt sich nun seine Beweggründe aus.

Man hätte sich auch David F. Wallaces Existenz als glücklich gedacht: Wenn einer in seinen Texten jedes denkbare Register beherrscht, den entsprechenden Erfolg hat sowie ein Haus und eine Ehe in Kalifornien - so einen treibt dann die Volkskrankheit Depression in den Tod.

Den deutschen Lesern bleibt noch das opus magnum zu entdecken, "Infinite Jest" (1996), dessen Übersetzung der Verlag seit Jahren für die jeweils nächste Saison ankündigt. Nun wird man es irgendwann posthum lesen müssen. Aber auch dürfen.


Titelbild

David Foster Wallace: In alter Vertrautheit. Storys.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach und Marcus Ingendaay.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
256 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3462037277

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Titelbild

David Foster Wallace: Vergessenheit. Storys.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach und Marcus Ingendaay.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
224 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783462039740

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