Das Andere annehmen

Zu Ryszard Kapuscinskis Begegnung mit dem Fremden

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein schmales Bändchen, das der Suhrkamp Verlag da veröffentlicht hat. Knapp 100 Seiten mit Vorlesungen, Vorträgen und Reden, die der polnische Reisende, Journalist und Publizist Ryszard Kapuscinski (1932-2007), Autor von Büchern wie "König der Könige" und "Meine Reisen mit Herodot", zwischen 1990 und 2004 an den Universitäten von Wien, Graz und Krakau gehalten hat. Aber diese Texte haben es, kurz gesagt, in sich.

Alle vier Teile, nämlich die "Wiener Vorlesungen" (2004), "Mein Anderer" (1990), "Der Andere im globalen Dorf" (2003) und "Die Begegnung mit dem Anderen als Herausforderung des 21. Jahrhunderts" (2004), sind Kapuscinskis großem Thema, dem Aufeinandertreffen von Eigenem und Fremden, gewidmet. In ihnen beleuchtet der berühmte polnische Auslandskorrespondent einerseits die lange, zuweilen sehr blutige Geschichte des Zusammenstoßes der europäischen Kultur mit denen anderer Kontinente. Andererseits lotet er die Möglichkeiten aus, die die bisher unbekannte - totale - Mobilität und die mit ihr einhergehende Globalisierung, die durch den Zusammenfall des bis 1989/91 abgeschotteten Ostblocks gewonnen wurde, für einen anderen, besseren Umgang mit dem Gegenüber bieten.

Zu Beginn betrachtet Kapuscinski die Entwicklung der Zivilisation, wobei darin Europa für ihn eine Ausnahme darstellt. Denn dieses zeichne sich seit seinen griechischen Anfängen durch Neugierde für die Welt und den Wunsch aus, diese nicht nur zu beherrschen und zu dominieren, sondern sie auch kennenzulernen. Andererseits hebt er jedoch auch die oftmals sehr gewaltsamen und blutigen Formen europäischer Expansion im Laufe der Geschichte hervor, so beispielsweise die Eroberungszüge Alexanders von Makedonien, die Ausweitung des römischen Imperiums, die "christlichen" Kreuzzüge im Mittelalter und die Epoche der spanischen Conquista.

Für den polnischen Reisejournalisten ist es zweifelsfrei erwiesen, dass sich Unterwerfen, Kolonisieren, Beherrschen und Abhängigmachen in der Historie unablässig wiederholten. Doch beginnt für ihn mit dem Zeitalter der Aufklärung eine regelrechte Revolution im europäischen Denken, da dort die Entdeckung gemacht werde, dass der Nichtweiße, der Nichtchrist und der "Wilde", diese scheinbar so monströsen Anderen, ebenfalls Menschen seien. Mit anderen Worten: "Zum ersten Mal wird der Andere in diesem Umfang, mit dieser Intensität zu einem internen Problem der europäischen Kultur, zu einem ethischen Problem für jeden von uns."

Als Konsequenz dieser Entwicklung in Europa ist nach Kapuscinski ein neuer Zweig der Sozialwissenschaften - die Anthropologie entstanden. Die beiden Schulen, die sich im Laufe der Zeit in diesem neuen Bereich entwickelt haben, werden im Folgenden vorgestellt: Da seien zum einen die "Evolutionisten" gewesen, die an den unaufhaltsamen Fortschritt der gesamten Menschheit und an deren psychische Einheit glaubten und als Beweis dafür die kulturellen Ähnlichkeiten anführten, die sie entdeckt und bestimmt hätten. Auf der anderen Seite hätten die Diffusionisten gestanden, die die Ansicht vertraten, dass es in der Welt viele verschiedene Zivilisationen und Kulturen gäbe, die sich gegenseitig durchdringen und dadurch einen Austausch herstellen würden.

Für Kapuscinski ist nun von entscheidender Bedeutung, dass in diesem Zusammenhang - insbesondere durch die Arbeiten des ebenfalls aus Polen stammenden Bronislaw Malinowski - die Feldforschung zur unverzichtbaren Voraussetzung für die Erkenntnis des Anderen aufgestiegen sei. Die persönliche Erfahrung des Fremden wird für ihn, der auch stark von der Philosophie Emmanuel Lévinas beeinflusst ist, gerade im Hinblick auf die moderne Massengesellschaft, die sich durch Anonymität, fehlende soziale Bindungen und Gleichgültigkeit auszeichne, zum größten Erlebnis: "Schau dem Anderen ins Antlitz, das er dir entgegenhält. Durch sein Antlitz öffnet er sich dir, bringt er dich Gott näher."

Weshalb nun dieses Lob des Anderen? Weil uns die Begegnung mit dem Fremden nach Lévinas und Kapuscinski eine neue Dimension des Ichs aufzeigt. Denn dieses sei nicht nur das einsame Individuum, sondern auch der Andere stelle einen Bestandteil dieses Ichs dar, wodurch eine neue Form der Person, des Seins entstünde. Gerade im Zeitalter des Übergangs von der Massen- hin zur globalen Gesellschaft und der Beschleunigung der elektronischen Revolution, das gleichzeitig auch eine Epoche der Verlockungen durch Egoismus, Konsumismus und - ganz aktuell - (Sub-)Nationalismen darstellt, leiste die von dem polnischen Philosophen und Priester Józef Tischner als "Philosophie des Dialogs" bezeichnete Begegnung mit dem Fremden Zweifaches: nämlich ein Verstehenlernen beziehungsweise eine (Wieder-)Annäherung der Menschen untereinander und dadurch eine neue Bewusstwerdung von Werten wie Identität, Achtung, Wahrnehmung und Wertschätzung. Die letzte Konsequenz eines solchen Verhaltens wäre schließlich eine zutiefst christliche: Hingabe, Entsagung und Demut.

Doch Kapuscinski beschränkt sich nicht darauf, lediglich Wünsche und Hoffnungen zu formulieren. So ist er beispielsweise bezüglich der Frage, ob Europa auf die Veränderungen vorbereitet sei, wie sie durch den rasanten Aufstieg der neuen Großmächte China und Indien auf die westliche Welt zukämen, mehr als skeptisch. Nach wie vor sei der eigene Kontinent geistig von den Anderen abgeschottet und in seinem Eurozentrismus erstarrt: "Wir behandeln den Anderen vor allem als Fremden [...], als Vertreter einer anderen Gattung, und, was am bedeutsamsten ist: wir sehen in ihm eine Bedrohung."

Als einen der Gründe für diesen Stillstand in Europa konstatiert der polnische Weltreporter das totale Desinteresse an politischen und militärischen Ereignissen außerhalb des Kontinents, wie beispielsweise die Ignorierung der Islamischen Revolution im Iran im Jahre 1979 durch den westlichen Literaturbetrieb. Anstatt sich diesen heiklen Problemen, die über die moderne Welt im weitesten Sinn Auskunft gäben, zu widmen, würden sich die Schriftsteller weiterhin mit - zweifelsohne auch nicht unwichtigen - Themen wie Dreiecksbeziehungen, Konflikten zwischen Vater und Tochter oder dem misslungenen Zusammenleben von jungen Paaren beschäftigen. Und dementsprechend würden auch die zahlreichen Preise vergeben. Politisch engagierte Literatur würde, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt und behandelt. Kapuscinski kann schließlich darin, dass aktuelle Konflikte lieber den Medien überlassen werden würden, nur eine "tiefe Krise im Verhältnis der Literatur zur Geschichte, ein Beweis für ihre Ratlosigkeit angesichts der Phänomene der modernen Welt" sehen.

Doch so enttäuschend diese Entwicklung auch sei, Kapuscinski schließt dennoch versöhnlich. Er sieht in den gewaltigen Umwälzungen, die sich durch die allmähliche Kräfteverschiebung auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene zugunsten aufstrebender, nichteuropäischer Staaten und die ungeheure Mobilität der Menschen ergeben, eine große - aber nicht bedingungslose - Chance. Und zwar für diejenigen, die die "Philosophie des Dialogs" ernst nehmen und sich darauf einlassen würden, im Zeitalter der Globalisierung, in dem eine Angleichung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche stattfindet, den Versuch zu unternehmen, die Verschiedenartigkeit, die Unterschiede, aber auch die Einmaligkeit eines jeden Einzelnen zu bewahren.


Titelbild

Ryszard Kapuscinski: Der Andere.
Übersetzt aus dem Polnischen von Martin Pollack.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
93 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-13: 9783518125441

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