Wissenschaft der Umarmungen

Der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch legt eine gewichtige Geschichte seines Faches vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sexualwissenschaftler waren wir alle einmal. Behauptet zumindest die Psychoanalyse. Dreijährige, die schon wissen wollen, woher die Kinder kommen, befinden sich nach Sigmund Freud in der Phase der "infantilen Sexualforschung". Auch der Begriff "Sexualwissenschaft" wurde von dem Analytiker geprägt, nämlich 1898 in einem Aufsatz in der "Wiener Klinischen Rundschau". Und nicht etwa von Iwan Bloch, wie Wikipedia glaubt. Der ruhmsüchtige Berliner Hautarzt und Wiederentdecker des Marquis de Sade hatte nach 1906 immer wieder behauptet, das Wort als erster verwendet zu haben, und seinen Wiener Konkurrenten des geistigen Diebstahls bezichtigt.

Als ,Begründer' dieses Faches kommen aber weder Freud noch Bloch in Frage, und auch nicht der deutsch-österreichische Nervenarzt Richard von Krafft-Ebing, dessen "Psychopathia sexualis" (1886) das weite Feld der Lüste und Wonnen mit einem Klassifikationsterror ohnegleichen überzog. Vielmehr waren es der Norditaliener Paolo Mantegazza und der Ostfriese Karl Heinrich Ulrichs, beides heute weitgehend vergessene Pioniere ihrer Zunft, die die Sexualwissenschaft begründeten. Denen stand um 1870 der Begriff "Sexualwissenschaft" allerdings noch gar nicht zur Verfügung; und so sprach Mantegazza poetisch von der "Wissenschaft der Umarmungen".

In Volkmar Siguschs "Geschichte der Sexualwissenschaft" wird ihre wissenschaftshistorische Bedeutung jetzt erstmals ins rechte Licht gerückt. Der Frankfurter Forscher fasst mit diesem gewichtigen Werk seine jahrzehntelangen Bemühungen um eine "kritische" Sexualwissenschaft zusammen. Diese fragt skeptisch nach "Licht und Schatten" ihrer prominenten Vertreter.

Die Sprache dieses beeindruckend kenntnisreichen Buches ist dabei nicht immer sachlich, sondern mitunter erfrischend leidenschaftlich und parteiisch: So wird eine dubiose Figur wie Christian Freiherr von Ehrenfels als "selten raffinierter Hund" bezeichnet oder Begriffe wie "Perversion" oder "Pädophilie" als "Käseglocken, die nicht verhindern können, dass das Dranghafte duftend und stinkend entweicht."

Für Sigusch waren beide, Mantegazza wie Ulrichs, ihrer Zeit weit voraus. Obwohl die Unterschiede kaum größer sein könnten. Der Italiener, ein zu Lebzeiten in ganz Europa berühmter Arzt und Essayist, beschäftigte sich mit dem, was heute Heterosexualität heißt, stellte bereits sexualphysiologische Experimente à la William Masters und Virginia Johnson an und war davon überzeugt, dass Frauen den Männern in Sachen Lustpotenz überlegen sind und ihnen eines Tages auch im Alltag gleichberechtigt gegenüberstehen würden.

Ulrichs hingegen glaubte an die Existenz eines dritten Menschengeschlechts, den "Urningen". Mutig und selbstbewusst kämpfte er für die Rechte der Homosexuellen. Für Sigusch war Ulrichs, der mehrmals verhaftet und des Landes verwiesen wurde, "der erste, gewissermaßen historisch vorzeitige Schwule".

So modern und liberal gesonnen diese Anfänge der Sexualwissenschaft um 1870 auch waren, zu ihrer Hoch-Zeit in Deutschland, den Jahren der ersten "sexuellen Revolution" nach 1900, waren bei ihren Vertretern, unter ihnen auffallend viele deutsche Juden, Fortschritt und Rückschritt oft nur schwer voneinander zu trennen.

Der schon erwähnte Iwan Bloch beispielsweise empfahl, bei onanierenden Frauen "wiederholte Aetzungen der Vulva" vorzunehmen, auch hielt er Homosexuelle für eine nur durch Internierung zu entschärfende Infektionsquelle der Gesellschaft. Selbst Magnus Hirschfeld, in der Weimarer Republik der bedeutendste Vertreter einer fortschrittlichen Sexualreform und von den Nazis ins Exil vertriebener Fürsprecher aller "sexuellen Zwischenstufen", überwies homosexuelle Patienten zur Kastration, um seine biologistischen Theorien zu beweisen.

Für Sigusch ist das nach 1900 immer lauter gewordene Gerede von "Rassenhygiene", Degeneration und Eugenik ein Diskursstrom, in dem die meisten Sexualwissenschaftler munter mitschwammen und dessen Gewalt sich nur Einzelne wie Sigmund Freud oder der Berliner Psychotherapeut Albert Moll entziehen konnten. Nicht dagegen der Schweizer Psychiater Auguste Forel, nicht die Pazifistin, Frauenrechtlerin und Vorkämpferin für Mutterschutz Helene Stöcker und auch nicht der jüdische Dermatologe und große Organisator seiner Zunft Max Marcuse, der einen effektiven "Rassendienst am deutschen Volke" forderte.

"Subjektiv", wie Sigusch seine Disziplin letztlich nennt, lässt sich auch bei jedem ihrer Vertreter ein individueller "blinder Fleck" aufzeigen. Bei einigen war es das Weibliche, so beispielsweise für Freud, der davon sprach, dass Weiblichkeit ein "dark continent" sei. Ähnlich dachte auch Siguschs Lehrer Hans Giese: Um gesellschaftliche Anerkennung für seine eigene sexuelle Orientierung kämpfend, idealisierte der Wiederbegründer der Sexualwissenschaft in der Bundesrepublik den in fester Partnerschaft lebenden, gebildeten Homosexuellen. Mit Frauen konnte Giese so wenig anfangen wie mit Schwulen, die promiskuitiv leben wollten.

Für den von der Studentenbewegung wiederentdeckten Wilhelm Reich oder den Autodidakten Ernest Borneman bestand dagegen das sexuelle Ideal letztlich in dem, was Sigusch boshaft den "Coitus germanicus simplex" nennt. Alles auch nur entfernt Gleichgeschlechtliche wurde von ihnen verdrängt. Gerade der Fall des von den Medien lange als "Sexualexperte" gefeierten Ernest Borneman zeigt, warum die Zukunft der lange nur von wissenschaftlichen Außenseitern betriebenen Sexualwissenschaft nur an den Universitäten liegen kann. Dort allerdings hat sie mit der zu Siguschs Emeritierung beschlossenen Abwicklung des Frankfurter Instituts gerade eine Heimstätte verloren.


Titelbild

Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft.
Mit einem Beitrag von Günter Grau.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
720 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783593385754

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