Streber versus Profikiller
Daniel Kehlmann hat eine Rede über Bertolt Brecht gehalten. Darin präsentiert er sich als ideologischer Musterschüler der Berliner Republik
Von Jan Süselbeck
Daniel Kehlmann gilt dem Feuilleton-Publikum als neuer deutscher Vorzeige-Dichter. Wohl in dieser ihm zugesprochenen Eigenschaft hielt der musterschülerhafte, 1975 geborene Jung-Autor die Eröffnungsrede zum diesjährigen Brecht-Festival zu Augsburg.
In dem wenige Tage später in der "Süddeutschen Zeitung" publizierten Vortrag stellt Kehlmann gleich zu Beginn mit einer albernen Stilblüte fest, Brecht sei "nicht das literarische Äquivalent zum Che-Guevara-T-Shirt", um dann mit der Behauptung aufzutrumpfen: "Und bevor wir uns wohlfeilen Phrasen überlassen, sollten wir einmal deutlich aussprechen, welches Glück wir haben, alle von uns, jeder Einzelne, dass die Welt nicht so geworden ist, wie er sie sich gewünscht hat, denn die seine würde keine freien Wahlen kennen, keine Meinungsfreiheit, keine Freiheit, dorthin zu gehen, wohin man will."
Als spreche er als einsamer Rufer in der Wüste etwas unherhört Mutiges aus, macht sich Kehlmann mit dem längst zur Mainstream-Ideologie avancierten Antikommunismus gemein, nach dessen Meinung Jeder, der es einmal wagte, auf die Utopie einer gerechteren Welt zu setzen, seine Seele an den Teufel verkauft habe. Kein Lied, das Hitler besinge, könne bestehen, habe Brecht postuliert - und das treffe letztlich auch ihn selbst, denn der Dichter habe "so manches Lob anderer Unterdrücker geschrieben", und zwar Lenins, Stalins und Walter Ulbrichts.
Man kann es seit der "Wende" von überall her bis zum Überdruss hören, dass der Stalinismus wohl noch schlimmer als der Nationalsozialismus gewesen sein müsse, weil er schon vorher da war (die Idee stammt ursprünglich von Ernst Nolte und löste 1986 den "Historikerstreit" aus), dass auch die DDR als "zweite deutsche Diktatur" auf das Skandalöseste verharmlost werde (noch schlimmer neuerdings: Ostdeutsche Schüler denken laut statistischen Erhebungen, die DDR sei 'gerechter' gewesen als die Berliner Republik!) und dass der 'rote Holocaust' des Gulags von der Linken über Jahrzehnte trotzig geleugnet worden sei, obwohl er und der Kommunismus allgemein in der Welt weit mehr Tote gefordert hätten als das "Dritte Reich" (Stéphane Courtois et alii).
Mit solchen diffusen kollektiven Gewissheiten im Rücken mäkelt nun Kehlmann in seiner Rede an Brecht herum, der Dichter habe das ästhetische Bedürfnis nach dem "Kitsch eines Profikillers" bedient und von der DDR aus gegen die BRD-Demokratie gehetzt. Als habe er für eine solche Kritik, die ein Joachim Gauck nicht vorhersehbarer hätte äußern können, heute noch einen öffentlichen Sturm der Entrüstung zu erwarten, tischt uns Kehlmann einen rhetorischen Taschenspielertrick auf, der den öffentlichen Diskurs affirmiert, indem er ihn als unterdrückte Minderheiten-Meinung ausgibt: "Warum steckt bis heute so wenig Glorie darin, Anhänger der Demokratie zu sein, warum ist es immer noch ein Kavaliersdelikt, etwas Entschuldbares am Gulag zu finden?" Gegen einen derartigen radical chic, wie der Festredner ihn mit dem Ledermantelträger Brecht assoziiert, "auch nur zu protestieren, wirkt so langweilig und moralinschwer, dass man es besser sein lässt."
Oder auch nicht. Denn der tapfere 'Provokateur' Kehlmann spricht es dann doch noch kühn aus: Brecht und seine Spießgesellen, die Stalin und Mao lobten, - Pablo Neruda, Jean-Paul Sartre, Louis Aragon und Ossip Mandelstam nennt der Autor in 'Tateinheit' - seien allesamt "Gegner von Demokratie und Freiheit" gewesen, "deren Argumente nur besser formuliert, aber nicht besser waren als die des nächstbesten Stammtischkrakeelers". Auch schön ist in diesem Zusammenhang Kehlmanns abfällige Bemerkung, es sei ohnehin schon immer eine seltsame Annahme gewesen, "dass Lyriker und Romanciers mehr über Politik wüssten als etwa Ingenieure, Zahnärzte und Orchestermusiker". Dass er mit seiner oberlehrerhaften Rede so auftritt, als treffe dies auf ihn jedoch ausnahmsweise dennoch zu, fällt Kehlmann offenbar schon gar nicht mehr auf.
Am Ende kann er sich trotz allem noch zu einer versöhnlichen Wende durchringen: Brecht sei eigentlich gar kein Theoretiker, sondern - in den Augen des Redners offenbar viel weniger verwerflich - zeitlebens "ein Mann des Instinktes" gewesen, und eben darin liege "seine Rettung". So sollten wir ihn doch, als Verfasser von "Werken, die zum Besten gehören, was je in unserer Sprache geschrieben wurde", Gedichten "so voll von Kraft und Melodie", "mit Nachsicht" behandeln. Habe Brecht doch selbst schon seinen "Nachgeborenen die wohlformulierteste Bitte um Verständnis hinterlassen".
Wie generös Kehlmann denen, die dem Marxismus 'verfielen', hier Gnade konzediert, muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: "Nein, wir sind nicht klüger als sie, aber rückblickend sollten wir auch nicht den Schrecken leugnen und tun, als wären sie klüger gewesen, als sie waren." Wie reflektiert und verantwortungsvoll muss dagegen ein Daniel Kehlmann sein, bedeutet uns der rhetorische Gestus dieser 'bescheidenen' Zeilen. Weiß er doch als Nachgeborener "alles Nötige über jenes Jahrhundert der Ideologien, deren Nebelschleiern wir so glücklich entronnen sind, dass es uns jetzt schon fern scheint und kaum mehr verständlich".
Dieser seit 1990 längst zum Allgemeingut gewordene Irrglaube, selbst in einem 'goldenen Zeitalter' der Entideologisierung zu leben, zeigt, dass gesellschaftspolitische Analyse, ein ideologiekritisches Misstrauen gegenüber der aktuellen deutschen Geschichtspolitik oder gar ein literaturhistorisch differenzierter Blick auf einen Schriftsteller wie Bertolt Brecht Kehlmanns Sache nicht sind. Doch genau deshalb liebt man ihn wohl hierzulande so sehr.
Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien bereits in leichter Variation in Konkret 9/2008.