Zwei Millionen Tote

Dieter Pohls bedeutende Studie über die Herrschaft der Wehrmacht in der Sowjetunion

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Und was bekam des Soldaten Weib", fragte Bertolt Brecht in der siebten und letzten Strophe eines Gedichtes von 1942, "Aus dem kalten Russenland?". In den vorherigen Strophen hatte sich "des Soldaten Weib" stets über ein neues Mitbringsel freuen können: Stöckelschuhe aus Prag, Pelzmützchen aus Oslo, einen Hut aus Amsterdam, die berühmten Brüsseler Spitzen, das seidene Kleid aus Paris und ein Hemd aus Bukarest. Aus Russland aber, so Brecht, bekam sie den Witwenschleier. "Zu der Totenfeier den Witwenschleier / Das bekam sie aus Russenland".

Wie Brecht sahen auch viele andere kritische Zeitgenossen mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 das Ende des NS-Staates herannahen. Bevor dieser jedoch besiegt wurde, feierte die Wehrmacht an der "Ostfront" noch einige militärische Erfolge. Zweieinhalb Jahre lang, bis Oktober 1943, stand sie ungefährdet als Besatzungsarmee in der Sowjetunion. In diesem Gebiet, das mit einer Million Quadratkilometer zweimal so groß wie Frankreich war, starben in diesem Zeitraum mindestens zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, Juden und Zivilisten. Dieter Pohl, einer der besten Kenner der NS-Okkupationspolitik, interessiert sich in seiner Münchener Habilitationsschrift dafür, welchen Anteil die Wehrmacht an diesem Massenmord hatte. Seine Studie konzentriert sich auf die Auswirkungen der militärischen Besatzung auf die einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion. Sie ist auf der Basis ausgiebiger eigener Quellenrecherchen und der nahezu unüberschaubaren deutschen wie internationalen Forschungen zum Thema geschrieben. Besonders hervorzuheben ist die Einbeziehung russischsprachiger Sekundärliteratur, mit der diese Studie im deutschen Sprachraum fast schon allein dasteht.

Pohl geht chronologisch-systematisch vor und schildert die wichtigsten Facetten der deutschen Militärbesatzung in der Sowjetunion in zwölf Kapiteln. Er analysiert die Erfahrungen der beteiligten Militärs aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die Planungen für die zukünftige Besatzungspolitik seit dem Frühjahr 1941, die Struktur der militärischen Okkupation in der Sowjetunion, die Behandlung der Bevölkerung im Westteil des Landes, das Verhältnis zwischen Wehrmacht und Zivilbevölkerung in den ersten Monaten der Besatzung, die Eskalation der Gewalt vom Winter 1941 bis zum Frühjahr 1942, die Ernährungspolitik, das Massensterben der Kriegsgefangenen im Operationsgebiet, den Massenmord an den Juden, den Kampf gegen die Partisanen, die Zwangsarbeit von Zivilisten und die Verbrechen der Wehrmacht auf den Rückzügen.

Jeder Aspekt wird ausgewogen und differenziert interpretiert. Das Resultat ist eindeutig: Die Wehrmacht war seit dem ersten Tag des Feldzuges ein entscheidender Träger der NS-Gewaltpolitik. Teils mordete sie in Eigenregie, teils unterstützte sie die verantwortlichen Stellen von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst, die ebenfalls im Militärverwaltungsgebiet aktiv waren, bei ihrer Vernichtungspolitik. Überzeugend wendet sich Pohl gegen apologetische Interpretationen, die im Massenmord an der einheimischen Bevölkerung ein Resultat systemischer Zwänge oder wechselseitiger Radikalisierungen mit der sowjetischen Politik sehen und die Wehrmacht von jeder Beteiligung an der genozidalen Politik des NS-Regimes reinwaschen wollen. Stattdessen sieht der Autor im Wesentlichen ein zielgerichtetes Vorgehen militärischer Stellen, das sich zwar regional unterschiedlich vollzog, im Endeffekt aber immer wieder auf Massenmord hinauslief.

Pohls Ergebnisse muten auf den ersten Blick wenig spektakulär an, ist doch die verbrecherische Rolle der Wehrmacht in der Sowjetunion in der seriösen Forschung mittlerweile kaum mehr umstritten. Seine Studie besticht aber auch durch eine neuartige methodische Herangehensweise. Erstens betrachtet der Autor die Besatzungspolitik der Wehrmacht nicht allein aus strategisch-operativer Perspektive, sondern bettet sie in die Betrachtung unterschiedlichster Politikfelder ein. Zweitens behandelt er die einheimische Bevölkerung nicht als monolithischen Block, sondern unterscheidet, soweit es die Quellenlage zulässt, stets zwischen den sowjetischen Völkern und kann auf diese Weise gravierende Differenzen in ihrer Behandlung durch die deutschen Armeen aufzeigen. Drittens kontrastiert Pohl die Besatzungspolitik der Wehrmacht immer wieder mit ähnlichen Phänomenen - etwa dem Vorgehen der kaiserlich-japanischen Armee in Südostasien seit 1937 - und plädiert für eine synchron wie diachron vergleichende Analyse militärischer Besatzung. Als besonders lohnendes Vergleichsobjekt nennt er die Okkupationspolitik der mit dem Deutschen Reich verbündeten Staaten, vor allem der italienischen, der rumänischen und der ungarischen Armeen. Stets entgeht Pohl der Gefahr, die verbrecherische Politik der Wehrmacht durch Vergleiche zu relativieren. Im Gegenteil: Sie bekommt dadurch schärfere Konturen.

Darüber hinaus gibt Pohls bahnbrechende Studie der allgemeinen Forschung zur NS-Besatzungspolitik einige wichtige Impulse. Sie zeigt, dass die Wehrmacht ein zentraler okkupationspolitischer Akteur war, und dies gilt pars pro toto auch für diejenigen von ihr eroberten Länder, die später unter Zivilverwaltung gestellt wurden. Lange Zeit hat die NS-Forschung allzu schematisch zwischen militärischer und ziviler Besatzung unterschieden und beide Bereiche getrennt voneinander analysiert. Wie wenig adäquat dies ist, wusste Brecht schon 1942. "Des Soldaten Weib" wurde eben auch dort zur Nutznießerin, wo die Wehrmacht als Besatzungsarmee kaum in Erscheinung trat und die Zivilverwaltung das Sagen hatte. Eine Gesellschaftsgeschichte der Okkupation wird diesen Sachverhalt zu berücksichtigen wissen. Und Pohls Studie markiert einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer solchen Gesellschaftsgeschichte.


Titelbild

Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944.
Oldenbourg Verlag, München 2008.
399 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783486580655

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