Ausgraben und Erinnern

Zu zwei Sammelbänden mit textorientierten Erkundungen des Werks von Annemarie Schwarzenbach

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist Walter Benjamin, der in einem seiner Denkbilder einen Vergleich zwischen der Annäherung an die eigene, verschüttete Vergangenheit und der Arbeitsweise eines Archäologen anstellt. Und auf welche Schriftstellerin passt dieses Bild besser als auf die 1942 verstorbene Schweizer Historikerin und Reisende, Journalistin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach, die ab 1933 immer wieder in die Welt zog, um sich selbst besser kennen zu lernen und deren 100. Geburtstag nun in diesem Jahr mit einer ganzen Reihe von Neuerscheinungen und Ausstellungen begangen wird?

Betrachtet man allerdings die Publikationen, die seit der Wiederentdeckung der Autorin Mitte der 1980er- Jahre zu ihrem Leben und Werk erschienen sind, so lässt sich konstatieren, dass sich das Interesse eindeutig - und dabei nicht unbeeinflusst von der androgynen Erscheinung dieses "verödeten Engels" (Thomas Mann) - auf das Leben der gerade mal mit 34 Jahren verunglückten Weltreisenden konzentriert. Allein die Neuerscheinungen dieses Jahres - zwei Biografien, ein opulenter Bildband und eine Monografie über die Beziehung der Schweizerin zur Schriftstellerkollegin Carson McCullers - machen die Schräglage in der Rezeption von Leben und Werk von Annemarie Schwarzenbach mehr als deutlich.

Einen wichtigen Schritt in Richtung einer intensiveren, weil textorientierten Beschäftigung mit dem Werk der Dichterin stellt ein bereits 2005 von Walter Fähnders und Sabine Rohlf herausgegebener Sammelband dar, der neben Analysen und Erstdrucken auch die erste Bibliografie zu den Schriften von beziehungsweise über Annemarie Schwarzenbach enthält. Den ersten Teil bilden dabei die Beiträge, die zum einen die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung und die literarischen Anfänge der jungen Frau diskutieren, zum anderen Texte wie "Freunde um Bernhard", "Flucht nach oben" und "Der Falkenkäfig" analysieren und ferner Reisetexte über Asien, Afrika und Portugal näher beleuchten.

Einen beträchtlichen Raum nehmen im zweiten Teil die Erstdrucke ein. So erscheinen hier erstmals neben Prosatexten wie "Paris III.", "Yelinda" und "Das Namenlose" auch die von Andreas Tobler eingeleiteten, editierten und kommentierten Briefe der jungen Frau an ihren Universitätsprofessor und Mentor Carl J. Burkhardt sowie der Briefwechsel mit der deutschen Reiseschriftstellerin Margret Boveri. Der dritte Teil schließlich besteht aus einer umfangreichen Bibliografie, die nochmals unterteilt ist in Schwarzenbachs selbstständige und postume Veröffentlichungen sowie bezüglich ihrer Rezeption zwischen künstlerischen Adaptionen von Leben und Werk und der Forschungsliteratur unterscheidet.

Nun ist vor kurzem und ebenfalls im Aisthesis Verlag ein neuer Sammelband namens "inside out" erschienen, der sich auf den eben genannten bezieht und - wie es der Untertitel bereits ankündigt - die "textorientierten Erkundungen" des Werks der Schweizerin weiter fortsetzt. Die beiden Herausgeberinnen Sofie Decock und Uta Schaffers, für die Schwarzenbachs Œuvre ein "vielgestaltiges Werk" darstellt, das eine "spannungsreiche Dialektik zwischen literaturgeschichtlichen Traditionen und zeitgenössischen Tendenzen" aufweist, distanzieren sich in ihrer Einleitung von der häufig auftretenden Herangehensweise in der Schwarzenbach-Forschung, die für die Ermittlung der Textbedeutung teilweise recht einseitig die Autorenbiografie heranziehe und umgekehrt die Texte stellenweise als Erklärungshilfen für das gelebte Leben benutzte. Decock und Schaffers betonen, dass dagegen im Falle von "inside out" die Texte selbst mehr in den Fokus rückten, wobei allerdings nicht einer Auffassung gefolgt werden solle, die das Konzept "Autor" prinzipiell für obsolet erklärte.

Eröffnet wird der Sammelband mit vier Beiträgen zu Schwarzenbachs Orienttexten. Walter Fähnders befasst sich mit dem nachgelassenen und erstmals 2008 veröffentlichten Erzählzyklus "Die Vierzig Säulen der Erinnerung", wobei er sich nicht nur näher mit entstehungs- und editionsgeschichtlichen Aspekten befasst, sondern auch mit dem Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität in den Texten sowie mit Fragen ihrer Literarizität. Die beiden folgenden Aufsätze beschäftigen sich mit dem 1940 erschienenen "Glücklichen Tal". Sofie Decock und Uta Schaffers richten ihren Blick in ihrem Beitrag auf die im Text vorzufindende Vielstimmigkeit und Stimmenüberlagerung auf der Ebene der Figurenrede und berücksichtigen dabei auch die darin enthaltenen Totengespräche. Im Gegensatz zu ihnen konzentriert sich Melissa De Bruyker auf das Zusammenspiel von Bibelgeschichten, Ich und erzählter Welt. Auf diesem Weg analysiert sie auch die makrotextuelle Logik des Textes, die als konstruierter Leitfaden eines sozial-politischen Subtextes erkennbar wird.

Kamal Y. Odisho Kolo und Heidy Margrit Müller decken in ihrem Beitrag anhand einer vergleichenden Gegenüberstellung der Orientreisen und -bücher von Annemarie Schwarzenbach und Gertrude Bell bislang überlesene intertextuelle Bezüge innerhalb der Werke beider auf und kommen dabei zu einer neuen Lesart der Reisen der promovierten Historikerin nach Persien. Maria Eichner befasst sich in ihrer Studie mit dem Thema der Krankheit als Orientalismus im (Leben und) Werk der Schweizerin. Dabei wird deutlich, inwiefern die Autorin sich innerhalb eines bestimmten Diskurses bewegt und diesen auch überschreitet. Äußerst aufschlussreich sind die hier ebenfalls aufgezeigten Parallelen zum Werk von Thomas Mann - und dabei vor allem zu "Der Tod in Venedig" (1912).

In den drei folgenden Beiträgen geht es dann um die unterschiedlichsten Reportage- und Reisetexte der Zürcher Industriellentochter. Gonçalo Vilas-Boas betrachtet sowohl Bildentwürfe in verschiedenen Reisetexten der Autorin als auch die Funktion von Wiedererkennen und Erinnern für die Konstruktion dieser Bilder. Alfred Opitz dagegen untersucht die Topik des Schreckens in den Berichten und reflektiert, inwiefern dort tradierte, "alteuropäische Immun- und Inklusionskonstrukte" schreibend über erzählerische Verfahren in Frage gestellt und literarisch produktiv gemacht werden. Sofie Decock schließlich wendet sich den Amerikareportagen aus dem Jahr 1937 zu, und zwar insbesondere unter stilistischen und wirkungsästhetischen Fragestellungen, wobei sowohl Differenzen zwischen den Texten als auch solche zwischen deren Vorstufen und endgültigen Fassungen analysiert werden.

Die nächsten beiden Beiträge stellen die Fotografie als Repräsentationsverfahren in den Mittelpunkt der Untersuchung. Silvia Henke befasst sich unter kulturanthropologischer Perspektive mit dem sozialen Sinn der Südstaaten-Fotografien, der in den Bildern zwischen Individuum und Gesellschaft (Kultur) konstruiert wird. Simone Wichor wendet sich ihrerseits dem Abhängigkeits- und Mischungsverhältnis zwischen dem schriftstellerischen und bildkünstlerischen Werk von Annemarie Schwarzenbach anhand der 1939/40 publizierten Bildreportagen aus Afghanistan zu.

Dem erzählerischen Werk der jungen Frau widmen sich die nächsten beiden Aufsätze. Sabine Rohlf untersucht die Darstellung des Begehrens in der 1930 geschriebenen Novelle "Yelinda" und liest diese als eine Auseinandersetzung mit weiblichem Begehren "unter ungünstigen Vorzeichen". Elio Pellin seinerseits beschäftigt sich mit dem 1933 entstandenen Roman "Flucht nach oben" und erschließt über das Motiv des Sports bestimmte Muster von Mobilität, Habitus und Körperkapital. Der letzte Beitrag in "inside out" von Bettina Augustin gibt schließlich neue Einblicke in die persönliche und kreative Beziehung zwischen der Schweizerin und ihrer amerikanischen Kollegin und Freundin Carson McCullers. Anhand der hier erstmals veröffentlichten Briefe aus den Jahren 1941/42 wird Zeugnis über eine sich gegenseitig befruchtende "literarische Wahlverwandtschaft" abgelegt.

Wie bereits nach dieser Zusammenfassung des Inhalts festgestellt werden kann, besitzen und präsentieren die einzelnen Beiträge von "inside out" nicht nur eine Fülle neuer Erkenntnisse, sondern sie geben auch Anregungen zu weiteren, neuen textorientierten Erkundungen des Werks von Annemarie Schwarzenbach - oder um das Denkbild von Walter Benjamin vom Anfang wieder aufzugreifen: Der neue Sammelband von Decock und Schaffers dringt - der archäologischen Feldforschung nicht unähnlich - in neue, bisher noch unbekannte Schichten im Leben und Werk der Autorin vor und macht so Lust auf mehr "Ausgraben und Erinnern".


Titelbild

Walter Fähnders / Sabine Rohlf (Hg.): Annemarie Schwarzenbach. Analysen und Erstdrucke.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2005.
349 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3895284521

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Titelbild

Sofie Decock / Uta Schaffers (Hg.): inside out. Textorientierte Erkundungen des Werks von Annemarie Schwarzenbach.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008.
322 Seiten, 28,90 EUR.
ISBN-13: 9783895286971

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