Chaos und Irrationalität

Lüder Meyer-Arndt beschreibt, wie Deutschland während der "Julikrise 1914" in den Ersten Weltkrieg "stolperte"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 28. Juni 1914 verübte der junge Gymnasiast Gavrilo Princip in Sarajewo ein Attentat auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie. Der Attentäter, Mitglied der nationalistischen serbischen Geheimorganisation "Schwarze Hand", wurde noch am Tatort festgenommen. Sein Schuss auf den Thronfolger war tödlich.

Das Attentat gilt gemeinhin als Auslöser des Ersten Weltkriegs. Die österreich-ungarische Doppelmonarchie durfte schon aus Prestigegründen diesen Angriff auf ihre Souveränität nicht ungestraft lassen. Eine Vergeltungsaktion gegen das Königreich Serbien musste sein ("Serbien muss sterbien!"). Bevor man aber dergleichen Maßnahmen zu unternehmen suchte, wollte man sich doch beim mächtigen deutschen Verbündeten Rückendeckung holen. Denn immerhin bestand die Gefahr, dass eine Aktion gegen Serbien auch Reaktionen etwa der Russen hervorrufen würde.

Da schien es geboten, für den Fall des Falles den deutschen Kaiser mit im Boot zu haben. Der signalisierte den Österreichern denn auch bereits am 6. Juli Zustimmung und begab sich sodann auf seine regelmäßige Nordlandreise. Zurück ließ er hilflose Politiker und Diplomaten, die während der nun einsetzenden "Juli-Krise" an der Lösung der Lage scheiterten.

Am 23. Juli übergab Österreich-Ungarn ein scharfes Ultimatum an die Serben, das diese aber zur Überraschung der Kriegstreiber und zur Erleichterung der Kriegsskeptiker am 25. Juli weitgehend akzeptierten. Den Österreichern aber reichte dies Entgegenkommen nicht. Am 28. Juli wurde die Kriegserklärung ausgesprochen. Die ,Hunde des Krieges' hatten Witterung aufgenommen.

Man hat dieser Gemengegelage aus dilettantischer Politik, gekränkter Eitelkeit, diffusem Machtstreben, verknöcherten Bündnisverpflichtungen und verklemmten Großmachtsehnsüchten, die schließlich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten, immer wieder mal ,Sinn' zu geben versucht. Hinter solchen Anstrengungen stand die Kriegsschuldfrage. Gegen die vorherrschende Ansicht, man sei 1914 durch die Umstände in einen ungewollten Krieg ,hineingeschlittert', behauptete in den 1960er-Jahren vor allem der Hamburger Historiker Fritz Fischer, Deutschlands "Griff nach der Weltmacht" (so der Titel seines Buches) habe den Kriegsausbruch verursacht - und die "Juli-Krise" belege eine gezielte Angriffsstrategie.

Fischers heute im wesentlichen anerkannter Standpunkt oder die etwas abgemilderte These vom "kalkulierten Risiko" (Andreas Hillgruber), mit dem das Deutsche Reich machtpolitische Interessen verfolgt habe, bergen zumindest noch die Annahme eines Rests rationalen Handelns. Doch wo blieb dieser, fragt sich Lüder Meyer-Arndt in seinem Buch über die Julikrise 1914, wenn die deutschen Verantwortungsträger "einen Krieg zugelassen haben, in dem das Reich sich der deutlich überlegenen militärischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Kriegspotentiale dreier Weltmächte gegenüber sah"?

Was ist ,vernünftig' daran, einen Krieg zuzulassen, bei dem unklar blieb, "was Deutschland bei diesem Kampf eigentlich zu gewinnen hatte", fragt sich Meyer-Arndt. Deutschland ,stolperte' also in den Krieg, weil seine politische und diplomatische Elite unfähig zu einer konsistenten rationalen Politik war. Statt dessen dominierten "Chaos" und "Irrationalität" das Krisenmanagement. Verantwortlich hierfür war in erster Linie der Kaiser mit seiner "Sprunghaftigkeit und seinem ebenso irrlichternden wie irritierenden Bramabarsieren", wie Imanuel Geiss im Vorwort zum vorliegenden Band schreibt. Doch war dergleichen bei dem Kaiserdarsteller bekannt. Niemand indes, weder der Reichskanzler und erst recht nicht der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow sowie die handelnden Diplomaten vermochten das "polykratische Chaos" zu ordnen. Jeder machte, was er wollte, ohne die erforderlichen Qualitäten und Kompetenzen. Es gab keine sinnvollen Abstimmungen geschweige denn eine bedachte Verantwortung für das Ganze.

Meyer-Arndt legt dieses Regierungsversagen auf der Grundlage neu interpretierter Dokumente, aber auch neu erschlossener Quellen, so unter anderem aus dem Nachlass des Staatsekretärs von Jagow, oder von Dokumenten zur Authentizität der Tagebücher Kurt Rietzlers, dessen Aufzeichnungen von Gesprächen mit Reichskanzler Bethmann-Hollweg bislang vielfach als authentische Quellen dienten, detailliert dar.

Aber ist das Ergebnis des dilettantischen Versagens der so genannten politischen Elite wirklich erstaunlich? Es sei an dieser Stelle an Diederich Heßling, Heinrich Manns "Untertan", erinnert. Das war der Typus, der das ganze Elend des Wilhelmismus - auch während der Julikrise - so markant personifizierte. Heinrich Mann hatte dem Roman, als er 1918 erschien, eine Bemerkung vorausgeschickt: "Der Roman wurde abgeschlossen Anfang Juli 1914."


Titelbild

Lüder Meyer-Arndt: Die Julikrise 1914. Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte.
Böhlau Verlag, Köln 2006.
407 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3412264059

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