Wann macht man sich schuldig?

Das Hörbuch zu Jodi Picoults Roman "19 Minuten" geht mit Tabu-Themen um

Von Sandra RührRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Rühr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jodi Picoult, die 40-Jährige Autorin mit den engelsgleichen Locken, sieht den Betrachter des Hörbuch-Booklets von "19 Minuten" auf dem Foto direkt an. Ein leichtes Lächeln umspielt ihre Lippen und ihr Blick lässt kein Ausweichen zu.

Sie selbst umgeht als Autorin kein noch so prekäres Thema. Im Gegenteil, gerade solche möglicherweise als Tabu-Themen geltende Plots scheinen ihre Vorliebe zu sein. Nicht aus Effekt-Hascherei, sondern um vor allem Kritisches noch einen Tick kritischer zu hinterfragen.

So geht es ihr in der Geschichte "Beim Leben meiner Schwester" darum, den Wert des Menschen abzuwägen. "Die Wahrheit meines Vaters" spürt der Identität der Hauptfigur nach, und "In einer regnerischen Nacht" behandelt das Thema Sterbehilfe. Was haben die genannten Titel mit "19 Minuten" gemeinsam? Alle erschienen in mehrfacher Auflage beim Piper Verlag, was für ihren Erfolg spricht. Alle haben jedoch auch einen gemeinsamen roten Faden: Sie gehen der Frage auf den Grund, wie Menschen sich schuldig machen können. Kann die Hauptfigur in "Beim Leben meiner Schwester" ihrer Schwester tatsächlich das lebensnotwendige Knochenmark verweigern? Kann ein Vater wie in "Die Wahrheit meines Vaters" seiner Tochter ihre Herkunft verschweigen? Darf ein Ehemann, wie es "In einer regnerischen Nacht" geschildert wird, seine Frau von ihrem Leiden erlösen und sie töten? Dies sind Dinge, die sich nicht pauschal beantworten lassen, sondern mitunter hitzige Diskussionen auslösen können.

Wie verhält es sich da mit dem Plot, den "19 Minuten" behandelt? Ein 17-Jähriger läuft Amok in seiner Schule und tötet dabei zehn Mitschüler, 19 weitere werden zum Teil schwerverletzt. Darf ein Mensch so etwas tun? Picoult möchte wissen, wie es zu der Tat gekommen ist.

Wie in den Romanen zuvor versucht die Autorin anhand der Schilderung aus verschiedenen Blickwinkeln ein Psychogramm der Persönlichkeit von Peter Houghton, der Hauptfigur, zu erstellen.

Die Schuldfrage

"Es spielt keine Rolle, wer du bist oder wo du herkommst. Wie du behandelt wirst, hängt von den Buchstaben des Gesetzes ab, nicht von sozio-ökonomischen Variablen." Dies sind die Worte der Pflichtverteidigerin Alex, die sich um einen Richterposten bewirbt. Die Tätigkeit der Richterin zeichnet sich in ihren Augen dadurch aus, dass, zumindest während der Verhandlung, Chancengleichheit zwischen den Anwesenden herrscht.

Chancengleichheit - ein gewichtiges Wort - und doch ist es genau der Dreh- und Angelpunkt des Romans "19 Minuten". Chancengleichheit nämlich wünscht sich Peter Houghton im Prinzip, seit er auf der Welt ist. Er ist ein schwächliches Kleinkind, das viel schreit und sich so die nötige Aufmerksamkeit verschafft, die allerdings, ohne dass es bewusst von den Eltern Lacy und Louis gewollt ist, mit zunehmendem Alter Peters zusehends verpufft. Der kleine Peter ist im Vergleich zu seinem großen Bruder stets insofern im Nachteil, als er nicht sportlich ist, sich weniger begabt zeigt und auch in keiner Weise so beliebt ist wie dieser. Mit dem ersten Tag in der Vorschule verbindet Peter alle Hoffnungen, endlich so sein zu können wie sein großer Bruder. Doch bereits während der Busfahrt dorthin werden seine Träume zunichte gemacht: Seine Lunchdose mit dem liebevoll von der Mutter zurechtgemachten Pausenbrot wird in hohem Bogen aus dem Fenster geworfen.

Dies ist der Anfang einer Tortur, die 12 Jahre lang andauern wird, solange, bis Peter zurückschlägt. Er wird dann mit zwei Pistolen und zwei Gewehren in seine Schule gehen, dort scheinbar wahllos auf seine Mitschüler schießen und sich zwischenzeitlich, offensichtlich ohne jegliche Anteilnahme, mit einer Schale Rice Crispies stärken.

Picoult erzählt aus der Sicht des Täters, nimmt diejenige der Mutter ein, lässt ein überlebendes Opfer und dessen Mutter, die Richterin, welcher der Fall zugeteilt wird, zu Wort kommen, stellt Tatsachen aus dem Blickwinkel des Ermittlers sowie des Verteidigers dar. Puzzleteilchen für Puzzleteilchen wird zusammengefügt, bis folgendes deutlich wird: "Du konntest das Opfer sein und du konntest der Peiniger sein." Für die getöteten und verletzten Mitschüler, deren Eltern und Freunde ist Peter Houghton der Peiniger, der unschuldiges Leben ausgelöscht oder beschädigt hat. Für sie wird er stets derjenige sein, der innerhalb von nur 19 Minuten alles zerstört hat. Für seine Mutter Lacy jedoch ist Peter auch das Kind, das ihr Gutenachtküsse gab, dessem kindlichen Gesang sie unter der Dusche lauschen durfte und das immer ein Teil ihres Lebens sein wird.

Picoult fragt nun, ob Peter nicht auch Opfer war: Das Opfer von Hänseleien, Spott, Hohn, Beleidigung und tätlichen Angriffen. Zugleich geht es ihr darum zu zeigen, wie im Prinzip jede Person zum Opfer ihrer selbst werden kann. Da ist die Anwältin Alex, die zur erfolgreichen Richterin aufgestiegen ist, dafür aber nicht mehr zu ihrer Tochter durchdringt und nicht einmal Rühreier zubereiten kann. Da ist Josie, ihre Tochter, eine hübsche und beliebte Musterschülerin, die alles dafür tut, um "oben" zu bleiben und sich und ihre Freundschaft zu Peter dafür verleugnet. Da ist Patrick, ein Polizist, der sich selbst als Hoffnungsträger der Opfer sieht und doch viel zu oft nichts mehr für sie tun kann. Da ist Jordan, als Verteidiger das Sprachrohr von Angeklagten, der viel zu oft eine Sprache sprechen muss, die er nicht wirklich sprechen möchte. Und da ist Lacy, die als Hebamme werdenden Eltern oft genug Ratschläge erteilt, aber selbst bei ihren eigenen Kindern immer wieder hilflos ist und lieber Schubladen und Türen verschlossen lässt, um sich mit ihrem Inhalt nicht beschäftigen zu müssen.

Alle sie sind Opfer ihrer selbst und zugleich Opfer von Peter Houghton: Alex wird der wichtigste Fall ihrer Kariere aberkannt. Josie muss über den Verlust ihres Geliebten Matt hinwegkommen. Patrick lernt, dass er belogen wird. Jordan erkennt, dass selbst die brillanteste Strategie nicht vor unvorhersehbaren Ereignissen gefeit ist, und Lacy verliert durch seine Tat auch noch ihren zweiten Sohn und muss sich fragen, was sie als Mutter falsch gemacht hat. Was alle bislang wie ein gut gehütetes Geheimnis verborgen hielten, ihr wahres Ich, kehrt Peters Amoklauf nach außen.

Die Covergestaltung des Hörbuchs, die identisch mit derjenigen der Buchvorlage ist, bringt die Frage der Autorin symbolisch auf den Punkt: Zu sehen sind lauter verschlossene Spinde, die alle eine Nummer tragen. Sie stehen sinnbildlich für verschiedene Ichs und die Rollen, die sie spielen. Alex erläutert dies im Hörbuch: "Dabei konntest du Richterin sein oder Mutter oder Träumerin. Du konntest Einzelgängerin sein oder Visionär oder Pessimist." Der Mensch nimmt für jede Situation, in der er sich befindet, eine spezifische Rolle ein - und so setzt sich seine variable Persönlichkeit zusammen. Peter Houghton jedoch war stets der Peter, der immer aus der Reihe tanzte, was ihn schließlich Amok laufen ließ.

Dies mag vielleicht für manche zu sehr nach erhobenem Zeigefinger klingen. Dennoch verurteilt die Autorin nicht, sondern möchte Erklärungshilfen schaffen. Einige Klischees werden allerdings doch ausgepackt: So entspricht Matt, Josies Freund, dem typischen amerikanischen Halbstarken. Peter flüchtet sich in seiner Einsamkeit - natürlich - in die Weiten des Internets und kreiert ein Ballerspiel. Josie und ihre Freundinnen haben nichts als Shopping und Schminke im Kopf, und eine Romanze ist tatsächlich auch mit dabei. Um die Fortentwicklung nach dem Massaker zu umschreiben, greift Picoult in die typische "Trickkiste": Was kündet ein Jahr nach der Tat besser von einem Neuanfang als eine Schwangerschaft und in schönster Blüte stehende Ahornbäume?

Inszenierung

Der Hörverlag griff bei der akustischen Umsetzung ebenfalls zu besonderen Maßnahmen: Es wurde nicht die Hörspiel-Inszenierung gewählt, was der Geschichte mit Sicherheit zu viel Dramatik verliehen und die psychologischen Aspekte überdeckt hätte. Stattdessen nutzte man die Form der szenischen Lesung, wobei für jede der sechs Figuren ein eigener Sprecher eingesetzt wird, der dann die Sichtweise seiner Figur schildert. Die verschiedenen Facetten, die zu Peters Tat geführt haben, werden so auch stimmlich aus variablen Blickwinkeln dargelegt.

Katharina Wackernagel, derzeit im Film "Der Baader-Meinhof-Komplex" zu sehen, spricht die Richterin Alex. Die 30-Jährige hat eine für ihr Alter verhältnismäßig tiefe Stimme, so dass man aus ihr die Reife und Kompetenz einer Richterin herauszuhören glaubt. Sie spricht vor allem bei Erzählpassagen akzentuiert und getragen, wird dann jedoch bei Dialogen sehr lebendig und schlüpft auch glaubhaft in fremde Rollen.

Bei Ulrike Hübschmann, der Stimme von Lacy, merkt man die mehrjährige Sprechertätigkeit für akustische Medien wie Hörfunk und Hörbuch. Obwohl sie die schwierige Rolle der Mutter des Täters einnehmen muss, hat sie eine warme und sympathische Stimme. Man nimmt ihr die Naivität der Mutter ab, die ihre Kinder zu sich selbst finden lassen will, ohne in deren Schubladen zu stöbern.

Schwieriger sind da die Figuren Peters und Josies, gesprochen von Tom Schilling und Rosalie Thomass. Beide sind Jungschauspieler, die, obwohl gerade einmal 26 und 21 Jahre alt, bereits als beste deutsche Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet wurden: Schilling für "Crazy" und Thomass für "Polizeiruf 110 - Er sollte tot". Beiden merkt man ihre Jugend beim Sprechen ohne Kamera an. Thomass liest vor allem zu Beginn ein wenig so, als wüsste sie gar nicht genau, was sie da vor sich habe, als hangele sie sich von Satz zu Satz. Die 17-Jährige, die sie zu verkörpern hat, wirkt jedoch durch ihre leicht raue Stimme wie die eines pubertären, rebellierenden Mädchens und damit plastisch. Schilling hat eine wenig männliche Stimme, so dass das Schwächliche seiner Rolle ganz in die Stimme gelegt klingt. Er hat etwas Verletzliches, was die Opferrolle, die die Autorin Picould Peter zugedacht hat, plausibel macht. Besonders eindringlich liest Schilling Szenen, in denen Peter im wahrsten Sinne des Wortes bloßgestellt wird. Dann wird seine Stimme beinahe weinerlich und rührt den Zuhörer fast zu Tränen. Allerdings hat Schillings Stimme diesen Klang nahezu das gesamte Hörbuch lang, zusätzlich "unterstützt" von einem nasalen Unterton mit deutlichen Atemgeräuschen. Dies ist über die Dauer von acht CDs leider etwas störend.

Oliver Brod und Bernhard Schütz, beide bereits für den Hörverlag in anderen Produktionen tätig, haben ein angenehmes Timbre und man lauscht ihnen gerne. Brod spricht den Polizisten Patrick trotz oder gerade wegen seiner Fernseherfahrungen mit "Wolffs Revier" gekonnt und Schütz mimt den Verteidiger Jordan, ohne sich in den Vordergrund zu spielen.

Eine trotz der vorgenommenen Kürzungen gelungene Hörbuchversion der vielschichtigen Vorlage.


Titelbild

Jodi Picoult: 19 Minuten.
Gekürzte Lesung. 8 CDs / 585 Min.
Der Hörverlag, München 2008.
29,95 EUR.
ISBN-13: 9783867172523

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