Steven Lukes rettet wieder einmal die Aufklärung

Auf Reisen durch die Staats-Utopen

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Steven Lukes ist Professor für Politologie und Sozialwissenschaften in Florenz, und er liebt die Aufklärer: Leibniz, Pope, Voltaire, Kant, besonders aber den "besten und edelsten der Philosophen der Aufklärung", den Marquis Jean-Marie-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet (1743-1794). Jedenfalls ist Condorcet der Lieblingsphilosoph seines Romanhelden, des Philosophieprofessors Nicholas Caritat. Er bewundert besonders den unbeugsamen Fortschritts-Optimismus, dem Condorcet in seiner letzten Schrift "Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain" Ausdruck verlieh, den Glauben an die unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, an seine tatsächliche Vervollkommung in intellektueller, moralischer und physischer Hinsicht, an seine natürliche Güte, an den unaufhaltsamen Aufstieg der Menschheit aus der obscurité der Unwissenheit und des Aberglaubens zur lumière der absoluten Vernunft. Condorcet gab den Glauben an den Fortschritt selbst dann nicht auf, als er ein Opfer seiner eigenen Doktrin wurde, aus der die Jakobiner - insbesondere Saint-Just dachte Condorcets Vorstellungen zu Ende - praktische Konsequenzen zu ziehen wussten. "Wie viele Millionen sind im Namen von Idealen geopfert worden, die aus eben dieser Ihrer Aufklärung hervorgingen", wirft ein wie Joseph de Maistre redender Geistlicher dem Professor vor: "von Fanatikern und ihren blinden Gefolgsleuten, die überzeugt waren, die Ordnung des Universums sehe eine unmittelbar bevorstehende Zukunft völliger Gleichheit und Einheit und Brüderlichkeit und Glückseligkeit vor, der allein ihre Feinde noch im Wege standen?" Und sein ehemaliger Kommilitone Dr. Orville Globulus, Propagandaminister der neuen Junta von Militaria, die Nicholas Caritat wegen seines unterminierenden Fortschrittsoptimismus hat verhaften lassen, erinnert ihn daran, dass er einer "erschöpften 'Metaerzählung'" anhänge, wie er es mit seinen "französischen philosophischen Freunden" Foucault, Lyotard, Baudrillard und Kristeva sagen wolle: "Die Zeiten der Metatexte, Nicholas, gehören der Vergangenheit an. Lesen Sie Richard Rorty. Die Geschichte hat keine Richtung. Alles ist kontingent und könnte sich jederzeit anders verhalten. Ich zum Beispiel, so unwahrscheinlich es Ihnen vorkommen mag, könnte leicht in Ihrer Lage sein und Sie in meiner."

Caritat sieht das als Opfer eines totalitären Regimes natürlich anders, ebenso zwei als Wärter ins Gefängnis eingeschleuste Angehörige einer ehemals marxistisch orientierten Widerstandsgruppe namens "Sichtbare Hand", die die Befreiung des Professors organisiert. Von der "Sichtbaren Hand" bekommt Caritat den Auftrag, "Gründe für den Glauben an eine bessere Welt zu finden". Das Problem sei: "Die Menschen gewöhnen sich langsam an den Status quo, weil sie den Glauben an die Möglichkeit zu etwas Besserem verloren haben. Sie glauben nicht an das, für das wir stehen, und wir wissen nicht, was das ist. [...] Für welche Sache können wir kämpfen und die nötigen Opfer verlangen? Wir wissen, wogegen wir sind, aber nicht, für was wir sind".

Caritat reist unter dem aus Voltaires "Candide" entnommenen Decknamen Dr. Pangloß auf der Suche nach der besten aller Welten zunächst nach Utilitaria, dann nach Kommunitaria, später nach Libertaria. Überall versichert man ihm, er sei am Ziel seiner Reise, überall aber wird er enttäuscht. Die Utilitarier schätzen Menschen allein wegen ihres Nutzens, die Kommunitarier sehen sie ausschließlich als Angehörige absolut zu respektierender Kollektive, die Libertarier dagegen kennen das Wort "sozial" nicht mehr und setzen ausschließlich auf das Glück des Einzelnen. (In Proletaria, einer Art Idylle, wo Mangel, Selbstsucht, Unvernunft, Intoleranz, Geld, Arbeitsteilung, Staat und alles mögliche Andere abgeschafft sind, wo man morgens jagt, mittags fischt, nachmittags Viehzucht treibt und abends "kritisiert", wo "jeder nach seinen Fähigkeiten" lebt, und es "jedem nach seinen Bedürfnissen" wohl ergeht, war Caritat nur in einem Traum, während der Zugfahrt von Kommunitaria nach Libertaria.)

Am Ende verlässt der Reisende Libertaria Richtung Nirgendwo (Utopien). Er hat erkannt, dass er überall nur Fanatikern begegnete, die sich einem einzigen Ziel verschrieben und alle anderen aus den Augen verloren: etwa Ordnung und Sicherheit herzustellen, oder Gemeinwohl und Glück zu maximieren, oder stabile Identitäten zur Verfügung zu stellen, oder die Individuen und ihren Besitz vor Störungen zu schützen. Das hat ihm die Eule der Minerva verraten, die er am Ende auch noch traf und die ihm die Zuversicht wiedergab, dass man Condorcets Traum von einer "Welt, in der politische Gleichheit und wirtschaftliches Wachstum und effiziente Organisation und soziale Gerechtigkeit miteinander und mit einer universellen individuellen Freiheit kompatibel wären", weiter träumen darf, wenn man über dem Verfolg eines Ideals die andern nicht vergisst, weil nämlich die "menschlichen Ideale" alle "in einer unauflöslichen Kette miteinander verknüpft" seien, wie Condorcet formuliert habe.

Nun, ganz so hatte es Condorcet nicht gesagt - er sprach vielmehr von der "ewigen Kette der menschlichen Geschicke", die uns mit einer leuchtenden Zukunft verbindet, was uns in Verfolgung und Not trösten könne. Aber sei's drum. Der Roman nimmt manches nicht so genau. Stattdessen versucht er spielerisch eine Antwort darauf zu geben, wie man aller Dialektik der Aufklärung zum Trotz an ihren Idealen festhalten kann. Professor Nicholas Caritat, respektive Professor Steven Lukes empfiehlt: Immer offen bleiben! Ihm sei auf seiner Reise aufgefallen, dass die meisten Menschen aufgehört hätten zu lernen und in ihrer eigenen Welt und Sprache gefangen blieben. "Ohne es zu beabsichtigen, haben sie mir beigebracht, wieder darüber nachzudenken wie man die Feinde einer offenen Gesellschaft erkennt."

Da jubelt er uns zum Schluss doch noch Karl Popper unter! Lukes will uns mit seinem Roman Poppers Antitotalitarismus nahe bringen, ohne den Traum von Karl und Fritz (die Nachnamen Marx und Engels fallen im Text nie) zu verleugnen. Das ist nicht unsympathisch, aber auch nicht besonders originell. Und literarisch leider auch nicht besonders gut gemacht. Ideengeschichte als "ein großes Abenteuer" bietet uns Lukes mit diesem Buch nicht. Aber er tröstet uns am Ende mit einer hübschen Variation auf einen Vers Dante Alighieris: "Lasst alle, die ihr hier hinausgeht, nie die Hoffnung fahren." Auf eine bessere Welt nicht, und auf bessere Bücher auch nicht.

Titelbild

Steven Lukes: Die Beste aller Welten. Professor Caritats Reise durch die Utopien. Aus d. Engl. v. Sebastian Wohlfeil.
Rotbuch Verlag, Hamburg 1999.
314 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3434530142

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